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Alles wird schlechter/gut

Jürgen Siebert über den Gebrauch von Angst in den Medien.

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Mitte des Jahres zogen die Ersten in den sozialen Netzen bereits ihr Resümee zum Jahr 2016: Bowie, Prince, Eco, Ali, Spencer tot … Attentate in Istanbul, Brüssel, Nizza, München … das schlimmste Jahr ever.

»Die Welt ist nicht schlechter geworden, wir sind nur besser informiert.«

Dieser Wahrnehmung stellt sich En­de Juli der US-amerikanische Erfin­der, Zukunftsforscher und Google-Manager Ray Kurzweil auf der Bühne der Postback-Konferenz in Seattle entgegen: »Die Welt ist nicht schlechter geworden, wir sind nur besser informiert.« Wenn vor hundert Jahren ein Dorf durch eine Naturkatastrophe dem Erdboden gleichgemacht wurde, erreichte diese Nachricht die Menschen im 20 Kilometer entfernten Nachbarort – wenn überhaupt – erst nach Tagen. Heute geschehen solche Unglü­cke auf der anderen Seite der Weltkugel, und Millionen Menschen in aller Welt sind live dabei.

Auch der »Spiegel« leistet mit seiner wöchentlichen Infografik »Früher war alles schlechter« einen Beitrag zum Per­spektivwechsel, indem er uns mit ei­nem Damals-Heute-Vergleich den Trend zum Guten vor Augen führt. So lernten wir in Ausgabe 32, dass 1976 der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch an Ziga­retten in Westdeutschland bei 2103 lag, heute dagegen bei 986. Oder dass die blutigste Phase des westeuropäischen Terrors die 1970er und 1980er Jahre wa­ren, als bis zu 400 Menschen pro Jahr ihre Leben ließen (Ausgabe 26). Ich be­trachte diese Kolumne auch als ein ers­tes Eingeständnis, dass zyni­sche Schwarz­weißmalerei alleine keine Abon­nenten mehr hält.

»Konstruktiver Journalismus« heißt die Strömung, auch über das Gute in der Welt zu berichten. Die Onlineplatt­form De Correspondent in den Nieder­landen zählt sich dazu, ebenso die Positive News in Großbritannien sowie die Rubrik »The Optimist« der »Was­hington Post«. »Wir wollen weg vom Schwarzweißdenken«, sagt die Jour­na­listin Maren Urner, Gründerin der Nach­richtenplattform Perspective Dai­ly. Der Sensationsjournalismus führe zu einer Spirale der Depression, Lähmung und Passivität.

Die Wissenschaft gibt der Bewegung recht. ZEIT Online zitiert mehrere Studien, die zu dem Ergebnis kom­men, dass negative Geschichten die Le­ser verängstigen, ja paralysieren. Das bewiesen unter anderem zwei Artikel zu Umweltschäden: Der eine berichte­te über die Verschmutzung der Meere, der andere über eine erfolgrei­che Säuberungskampagne. Nach der Lektüre des lösungsorientierten Textes sag­ten die Studienteilnehmer, dass sie dadurch motivierter seien und umwelt­freundlicher handelten.

Die Werbung weiß schon lange, dass sich schlechte Nachrichten nicht gut verkaufen.

Die Werbung weiß schon lange, dass sich schlechte Nachrichten nicht gut verkaufen. In den 1960er Jahren spiel­te sie selbst noch mit der Angst: Frauen wurde ein schlechtes Gewissen eingeredet, wenn sie keinen Weichspüler benutzten; Kinder sollten sich vor dem Zahnarzt fürchten, weil er bohrt, wenn man die falsche Zahncre­me verwendet; Männern drohte die Gefahr, zum Choleriker zu werden (»Warum denn gleich in die Luft gehen …«), wenn sie keine Beru­hi­gungs­zigarette rauchten.

Doch Angst ist ein gefährliches Ge­fühl, weil sie den Verstand außer Gefecht setzt. Die Politik macht nichts­des­totrotz un­beirrt Gebrauch davon und steigert die Wahlver­dros­senheit der Bürger. Jüngstes Beispiel: Die Som­mer­lochdebatte über die Ganz­kör­per­verschleierung. Was gibt es da eigentlich zu regeln? Sind Burkas ein Si­cher­heits­risiko? Geht es wirklich um die Gleich­berechtigung der muslimischen Frau? Und: Gehört die Panda­bär­mas­ke nicht auch in diese Diskussion?

Nein, es geht um die Angst vor dem Fremden. Denn noch fremder als ein Mensch mit ungewöhnlicher Hautfarbe ist ein Mensch, der sein Gesicht ver­birgt. Und es geht darum zu zeigen, wer der Herr im eigenen Land ist, wer über Leitkultur entscheidet und über angemessene Kleidung. Die Debatte ist rechte Rattenfängerei. Und sie ist durchschaubar.

Daher mein gefühlter Eindruck über den Grad der Aufklärung: Er nimmt zu. Die Menschen wen­den sich mehr und mehr ab von Politik und Medien, die Angst schüren. Und viele Jour­nalisten haben erkannt, dass es sich nicht lohnt, die Verdrossenheitsspira­le wei­ter zu schüren.

Ja, Angst lähmt unseren Verstand. Aber es liegt an uns selbst, ihn wieder einzuschalten, um die Ursache der Angst zu erkunden. Und ob sie wirklich be­rech­tigt ist. Oder nur als Waffe eingesetzt wird.

Kommentare zu diesem Artikel

  1. Ein paar PubizistikstudentInnen der Uni Wien haben die Internetseite http://www.constructivenews.org als Gegenpol zu den schlechten Nachrichten eingerichtet. Vielleicht hier von Interesse …

    K. Sautner

  2. Feiner Artikel. Manchmal bin ich stolz als Designer solche Kollegen zu haben.
    »Ja, Angst lähmt unseren Verstand.« Aber bitte auf die Rekursion achten.

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