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Siebert-Kolumne: Raus aus der Gleichförmigkeit!

Jürgen Siebert geht der Frage nach, wie Kreative heute zu Idolen werden können.

© Karin Kraemer, www.karin-kraemer.net | www.instagram.com/karin__kraemer

Als PAGE 1986 gegründet wurde, verehrten wir ein gutes Dutzend wegweisender Grafikdesignerinnen und -designer, darunter Tibor Kalman, Paula Scher, Neville Brody, Zuzana Licko, Otl Aicher oder April Greiman. Ihr Schaffen und ihre Bücher ermutigten uns, an die Kraft des Designs zu glauben. Und an unsere Ideale. Schaut man sich heute um, stellt sich die Frage: Wo sind eigentlich die Designidole?

Unsere Welt verändert sich in atemberaubender Geschwindig­keit. Dabei ist die Technologie der größte Beschleuniger. Mehr Transformation bedeutet auch mehr Design. Statistiken belegen, dass die Kreativwirtschaft zu den wachstumsstärksten Bran­­chen gehört, einschließlich der Designsparte. Allerdings werden Pro­dukte heute anders entwickelt, nämlich integriert, über mehrere Ebenen: vom Geschäftsmodell über Prozesse und Tech­nologien bis hin zur Oberfläche. Gutes Design ist mit sämtlichen Stufen verknüpft und angehalten, der maximalen Wertschöpfung zu dienen. Die visuelle Gestaltung agiert nicht mehr horizontal, sie ist vertikal eingebunden.

Die Vermutung liegt nahe, dass Designer:innen heute weniger Bewegungsfreiheit haben als früher: eingebunden = gefesselt. Tatsächlich sind sie bei der Produktentwicklung dauerhaft mit allen Stakeholdern im Austausch. Das klingt erst mal nach viel Kommunikation und weniger Zeit fürs Gestalten. Andererseits war das Design noch nie so eng und so früh in Entwicklungsprozesse integriert wie heute. Und das ist gut.

Negativ betrachtet teilen Kretaive heute das Schicksal von Ingenieurinnen, Verkäufern und Buchhalterinnen: Sie sind ein Rädchen im unternehmerischen Getriebe. Das ist nicht wirklich glamourös oder künstlerisch, was Design ohnehin nicht sein sollte. Auf diesem Boden wachsen keine Stars, keine Vorbilder. Und trotzdem hat das Design mehr Macht als je zuvor. Aber wird es gehört? Oder: Verschafft es sich Gehör?

Wir befinden uns aktuell in einer lauwarmen Übergangsphase. Fast jedes Business ist eine App, und jede App fühlt sich gleich an. Das liegt einerseits daran, dass die Bedienung schnell verstanden werden soll. Aber auch daran, dass ihre Schöpfer in die gleichen Prozesse eingebunden sind, die gleichen Tools verwen­den, die gleichen Trainingsprogramme absolvieren, den gleichen Dribbble-Feeds folgen und das gleiche Karriereziel haben.

Viele Designer:innen haben ihren Mut zur Veränderung in einer industriellen Struktur verloren, die auf Konsens, Vorhersehbarkeit und kurzfristigen Geschäftsgewinn optimiert ist. Daten­gesteuerte Entwicklungsprozesse haben die kreativen Geister so lange weich gespült, bis sie risikofreie Konsensergebnisse abliefern. Dieser Zustand ist eine Innovationsbremse allererster Güte. Das Design muss raus aus diesem Hamsterrad.

Tatsächlich sind es gerade die Designer:innen, die zaghaften Auftraggeberinnen oder Firmenbossen die Augen öffnen können. Zum Beispiel mit einem leicht zu bedienenden Prototyp, dessen User Experience mitreißt. Vergesst für ein paar Stunden die Standardisierung des Designprozesses! Macht den Unterschied zwischen einem guten und einem großartigen Design deutlich!

Wie das geht, wird uns bald Mike Monteiro verraten, dessen designpolitischer Blickwinkel weltweit Gehör findet, beispielsweise durch das vor zehn Jahren veröffentlichte Buch »Design Is a Job«. Nun hat er für den 8. November »die notwendige 2. Auflage« angekündigt, Mitte September twitterte Monteiro: »Die ers­te Auflage versuchte, uns einen Platz am Tisch zu ergattern. Die zweite nutzt den Tisch zum Anzünden.« Und: »Ich brenne die ganze verdammte Kirche nieder.« Kurz darauf stellt er klar: »IHR seid nicht das Problem.«

Der Designer Mike Monteiro kocht. Er sieht sich und seine Berufskolleginnen und -kollegen gefangen in einem ungesunden System, das Mensch und Umwelt schadet. Dieses gelte es zu destabilisieren. Wir dürfen gespannt auf seine Rezepte sein.

Kommentar zu diesem Artikel

  1. Jürgen Siebert hat den IST-Zustand ganz gut geschildert. Ich glaube jedoch nicht, dass Idole uns weiterhelfen. Die Idole mögen uns zwar damals motiviert haben, aber das hat unserem Berufsstand insgesamt leider gar nichts geholfen. Als introvertierter Haufen sind wir immer Außenseiter gewesen und wir haben uns darauf ausgeruht und gehofft, dass die Welt schon irgendwann verstehen wird, was wir und unsere Kreativität wirklich wert sind. Unser Ansehen ist nicht gewachsen, und die monetären Ansprüche die sich aus unserem Tun ableiten hinken dem Stundenlohn meiner Autowerkstatt immer noch hinterher. Es gibt immer noch Berufseinsteiger:innen, die mit 2300.- Euro Einstiegsgehalt beginnen – nach einem Studium. Und jeder erzählt von der boomenden Kreativwirtschaft, die doch ach so viel an Umsatz und Wachstum generiert und sie suchen händeringend nach Nachwuchs. Viele desillusionierte Berufseinsteiger:innen geben es nach zwei Jahren dran, wenn sie nur noch Social Media Anzeigen kloppen sollen. So wird das nichts. Wenn wir uns innerhalb der Branche schon kannibalisieren, wie können wir dann erwarten, dass Fachfremde uns wertschätzen? In Jahrzehnten nicht geschafft eine gemeinsamen Berufsverband auf die Beine zu stellen, dafür viele Wettbewerbe erfunden, bei denen wir uns selbst auszeichnen und die Preise auch noch selbst bezahlen. Die Teilnahme an Pitches ist immer noch Usus. Die Zeit der Held:innen ist vorbei. Vielleicht ist es auch gut so – wir müssen raus aus und der Welt glaubhaft und nachprüfbar erzählen und zeigen können, wozu wir kreativen Wesen in der Lage sind und wo wir hilfreich und nützlich alle vielfältigen Prozesse in Gesellschaft, Institutionen und Unternehmen unterstützen und bereichern können. Da mag der Glamour vielleicht fehlen, aber ein Versuch ist es wert und vielleicht beginnt es dann auch wieder zu funkeln!

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