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Wenn sich etwas nicht normen lässt, dann ist es die Schriftgröße

Unser Kolumnist Jürgen Siebert hat sich die neue »DIN 16507-2 Schriftgrößen« angesehen und fragt sich: Wer braucht das heute?

Jürgen siebert, Sieberts Fundstücke
© Foto: Norman Posselt

Das Deutsche Institut für Normung in Berlin wacht über rund 30 000 Normen. Ob Stecker, Schraube, Stuhl: Die meisten Industrieprodukte folgen einer DIN-Konvention. Normen sind Empfehlungen, nicht verpflichtend. Die weltweit bekannteste DIN-Norm ist 100 Jahre alt und heißt »DIN EN ISO 216«. Sie regelt das Verhältnis zwischen Breite und Höhe eines Blatt Papiers (1 : √2), sodass sich durch mittiges Falten im Hochformat der nächstkleinere Bogen im gleichem Seitenverhältnis ergibt. Außer in Nordamerika sind A1, A2, A3, A4 … überall Standard, was nicht nur das Leben der Kuvert-, Kunststoffhüllen- und Ordnerhersteller erleichtert, sondern auch den Entwicklern von Druckern und Kopierern. Zwar ist das DIN-Institut – juristisch gesehen – ein eingetragener Verein, doch kann es seine Existenz weder durch Mitgliedsbeiträge (10 Prozent) noch durch staatliche Mittel (10 Prozent) sicherstellen. Neben Zuwendungen aus der Industrie (20 Prozent) sind es vor allem die Erlöse aus dem Verkauf der gedruckten Normen über die Tochtergesellschaft Beuth Verlag (60 Prozent), die den Fortbestand des Instituts garantieren. Umso wichtiger ist es für die Normwächter, sich in möglichst viele Industriezweige einzumischen.

Ohne Albert-Jan Pool würde die Empfehlung für Leserlichkeit noch heute lauten: Arial 18 Punkt garantiert beste Lesbarkeit.

Gleich mehrere Normen widmen sich der Bürokommunikation, ja sogar zum Thema Schriftnutzung und Schriftdesign hat das Institut Regeln auf Lager. Vor sechs Jahren wurde die »DIN 1450 Leserlichkeit« überarbeitet, weil die Fassung von 1993 überholt war. Auch ich hatte damals die Ehre, an einer Sitzung der »Arbeitsgruppe 1450« teilzunehmen, zu der nicht nur Ingenieure und Menschen mit Sehbehinderung gehörten, sondern tatsächlich auch Fonttechniker und Schriftentwerfer, darunter Albert-Jan Pool, Schöpfer der Schrift FF DIN. Seiner Beharrlichkeit ist es zu verdanken, dass die »DIN 1450« auch designabhängige Lesbarkeitskriterien und Lesedistanzen berücksichtigt. Ohne ihn würde die Empfehlung für Leserlichkeit noch heute lauten: Arial 18 Punkt garantiert beste Lesbarkeit.

»DIN 16507-2«: »Die Einheit Punkt darf nicht mehr verwendet werden«

Aktuell steht eine weitere Typografie-Norm zur Diskussion, was durchaus wörtlich zu nehmen ist: Bis zum 23. Oktober kann die »DIN 16507-2 Schriftgrößen« über das Norm-Entwurfs-Portal kommentiert und nachgebessert werden. Bei dieser Richtlinie handelt es sich um Teil 2 der »DIN 16507 Drucktechnik« von 1998, die weitgehend von den Begrifflichkeiten des Bleisatzes geprägt war und demnächst in »Schriften« umgetauft wird.

Die »DIN 16507-2« widmet sich dem Thema Schriftgrößen, was angesichts absoluter und relativer Parameter kein trivialer Stoff ist und schon deshalb 16 Seiten füllen kann. Das Papier beginnt mit einem Paukenschlag: »Die im typografischen Maßsystem verwendete Einheit Punkt darf nach dem Gesetz über Einheiten im Messwesen vom 2. Juli 1969 … im geschäftlichen und amtlichen Verkehr nicht mehr verwendet werden.« Hoppla, lauert hier eine Abmahnfalle? Im Absatz C ganz hinten steht dann abmildernd, dass »heute durch die Dominanz angloamerikanischer Anwendungsprogramme weiterhin das traditionelle Punkt-System in Gebrauch (ist) und einen De-facto-Standard verkörpert.«

Nachdem ein paar allgemeine Begriffe geklärt sind, geht es in die Tiefen der Schriftgrößenbezeichnungen: Grad, Kegel, Geviert, Schriftbildhöhe, Versalhöhe, Oberlänge und Mittellänge werden in Wort und Bild erläutert. Dabei gelingt es der Norm erwartungsgemäß nicht, den Begriff »Schriftgröße« genau zu definieren. Wie auch: Es handelt sich um eine relative Maßeinheit, für die es keine exakten metrologischen Bemessungsgrundlagen gibt. Die sich anschließenden Seiten erläutern zeichenbezogene Fachausdrücke (Vorbreite, Nachbreite …) und textbezogene Begriffe. Wer nicht rechnen kann oder will, freut sich über die Schriftgrößen-Umrechnungstabelle von 6 bis 96 Punkt, wobei 1 Punkt 0,353 Millimetern entspricht. Spätestens bei den Faustregeln und der Seite mit den Typometerskalen fragt man sich: Wer braucht das heute?

Der Norm gelingt es erwartungsgemäß nicht, den Begriff »Schriftgröße« genau zu definieren. Wie auch: Es handelt sich um eine relative Maßeinheit, für die es keine exakten metrologischen Bemessungsgrundlagen gibt.

Das Problem der »DIN 16507-2«: komplettes Fehlen von Web- und App-Typografie

Die »DIN 16507-2 Schriftgrößen« widmet sich zwei Dutzend Termini, die in der Fachliteratur seit Jahrzehnten verständlich dokumentiert sind, zum Beispiel in de Jongs/Forssmans »Detailtypografie«. Wer keinen Bock hat zu lesen, findet die Antworten im Netz. Und hier kommen wir zum eigentlichen Problem der »DIN 16507«, das komplette Fehlen von Web- und App-Typografie. Schließlich werden heute die meisten Texte nicht für Papier, sondern für Bildschirme aufbereitet. Gerade hier besteht Klärungsbedarf bei den Schriftgrößen, die in px, em, rem, small, % und anderen Einheiten definiert sind.

Mit CSS3 wurden vor fünf Jahren die Viewport Sizes eingeführt, mit denen sich responsive Texte flexibel gestalten lassen. Viewport Units wie vw (viewport width) und vh (viewport height) sowie vmin und vmax erlauben es, Schriftgrößen in Relation zur jeweils aktuellen Größe des Browserfensters beziehungsweise der Bildschirmbreite zu definieren. Nie war es einfacher als heute, die perfekte Zeichenmenge pro Zeile (±60) mit der Schriftgröße und der Spaltenbreite zu verknüpfen und optimal lesbaren Text auszuliefern. Ob es dafür einer Norm bedarf, ist mehr als fraglich.

Die »DIN-16507-2« verdeutlicht die größte Herausforderung für das Institut für Normung: seine Relevanz für die digitale Welt. Im World Wide Web regieren De-facto-Standards und global operierende Gremien wie das W3C oder das Unicode-Konsortium, wo Vertreter von Adobe, Facebook, Apple, Google und Co mit am Tisch sitzen. Wird tatsächlich ein Standard gebraucht, erblickt dieser eher als ISO- oder als europäische EN-Norm das Licht der Welt. So ist es nicht verwunderlich, dass sich das DIN-Normenwerk zunehmend aus der Lokalisierung internationaler und europäischer Regularien zusammensetzt. Der Anteil rein nationalen Normen nimmt stetig ab und liegt aktuell bei 25 Prozent … Tendenz weiter sinkend.

Die größte Herausforderung für das DIN-Institut: seine Relevanz für die digitale Welt.

Kommentare zu diesem Artikel

  1. In der Autoindustrie gesellt sich zu den genannten Maßsystemen noch der Sehwinkel. Mindestschriftgrößen werden hier vom Gesetzgeber in Bogenminuten angegeben, die von der physischen Darstellungsgröße unabhängig sind: je weiter sie vom Auge des Fahrers entfernt sind, desto größer werden sie. Das hat Sinn, weil damit zum Beispiel Headup Displays gestaltet werden, bei denen das Schriftbild das Ergebnis einer komplexen Folge von Projektion und Reflexion ist und kein Buchstabe in der physischen Größe vorhanden ist, in der er scheinbar vor dem eigenen Fahrzeug über die Straße tanzt.

  2. Vielen Dank, Jürgen, dass du über die Veröffentlichung des Entwurfs der aktuellen DIN 16507-2 geschrieben hast. Mit diesem Kommentar möchte ich ein paar Dinge richtig stellen.

    Die Aussage, dass DIN 16507-2 ausgerechnet die Schriftgröße nicht normiert hat, möchte ich nicht so stehen lassen. DIN 16507-2 besagt, dass die Schriftgröße bzw. die Kegelhöhe die Ober- und Unterlängen umfassen soll. Dies sollte gewährleisten, dass, wenn der Zeilenabstand identisch mit der Schriftgröße ist, sich die Oberlängen und Unterlängen nicht berühren. Das ist genau das, was Schriftanwender im englischen Sprachraum von einer Schrift erwarten. Was DIN 16507-2 nicht festlegt, ist, wie groß die Differenz zwischen der Kegelhöhe und den von ihr umfassten Ober- und Unterlängen sein darf. Es mag einen verwundern, warum der Ausschuss darauf verzichtet hat, aber mit dieser kleinen Ungenauigkeit leben Schriftgestalter, -Hersteller und Anwender seit der Erfindung Gutenbergs.

    Die bisherige Fassung der Norm ging von einem festen Bezug von Versalhöhe zur Kegelhöhe aus. Deutsche Schrifthersteller wie Bertold und Scangraphic folgten einst dieser Methode. Linotype wendete sie in den 1980ern nur halbherzig an. URW und E+F sind die einzig verbliebenen Firmen, die bei diesem System geblieben sind. Der feste Bezug von Versalhöhe zur Kegelhöhe hatte den Vorteil, dass Setzer bei nachzusetzenden Drucksachen anhand der leicht zu messenden Versalhöhe (in mm) auf die verwendete Schriftgröße schließen konnten (sofern sie an einem Satzysstem von Berthold oder Scangraphic arbeiteten). Heutzutage liegen Dokumente und CD-Manuals in der Regel digital vor, es wird kaum noch „nachgesetzt“; der Vorteil der Methode hat sich erübrigt. Geblieben ist der Nachteil, dass bei Schriften, bei denen die Oberlängen größer sind als die Versalhöhe (wie z.B. Garamond, Futura und Syntax), bei kompress gesetztem Satz (Zeilenabstand gleich Schriftgröße) die Unterlängen in die Oberlängen der nachfolgenden Zeile hineinragen. Letzteres mag dazu beigetragen haben, das sich dieses System am internationalen Markt nicht durchgesetzten konnte. Gebliebenen sind aber die Typometer, mit dem man anhand der Versalhöhe auf die Schriftgröße in Punkt schließen sollte. Jeder, der einen derartigen Typometer angewendet hat, weißt, dass das in den seltensten Fällen richtig funktioniert. Leider propagierten diverse DIN-Normen ebenfalls das System der „Schriftgröße nach Versalhöhe in mm“. Zusammen mit der Tatsache, dass außerhalb des grafischen Gewerbes das metrische System nunmal Standard ist, ergaben sich dadurch jede Menge behördlicher Vorschriften, in denen die Schriftgröße in mm angegeben wird. Bei Angaben wie „Schriftgröße 2,5 mm“ wird meistens nicht spezifiziert, ob damit die Versalhöhe oder die Kegelhöhe gemeint ist … Die zwei betreffenden Normen, DIN 1450 – Leserlichkeit und DIN 1451-1 – Serifenlose Antiqua, wurden 2013 resp. 2018 aktualisiert, als letztes in der Reihe ist jetzt die DIN 16507-2 – Schriftgröße dran. Es gibt übrigens recht wenig Fachliteratur, in der für digitale Schriften der Bezug vom Schriftbild zur Kegelhöhe sowie die anderen, damit zusammenhängenden Fachbegriffe klar definiert werden. Die meisten kommen da nicht viel weiter als DIN 16507-1 – Bleisatz. Es war, zusammen mit dem durch die „Versalhöhe in mm“ verursachten Wirrwarr, mit einem Grund, warum der Ausschuss es für richtig hielt, die 16507-2 neu aufzulegen.

    DIN 16507-2 stellt diverse Anforderungen, die für das genaue Arbeiten mit Schriftgrößen durchaus wichtiger sind als die exakte Definition der Kegelhöhe. Für die Leserlichkeit ist weder die Kegelhöhe, noch die Versalhöhe, sondern die x-Höhe entscheidend. Deswegen fordert DIN 16507-2 die Hersteller von Anwendungsprogrammen dazu auf, neben der klassischen Eingabe der Schriftgröße mit Bezug auf die Kegelhöhe, die Eingabe der x-Höhe zu ermöglichen. Der Wert der x-Höhe ist in allen TrueType und OpenType-Fonts in den Schriftdaten hinterlegt, es dürfte also kein Problem sein, diese Anforderung umzusetzen.

    Ansonsten sagt DIN 16507-2, dass Versalakzente nicht mehr als 20% der Kegelhöhe über die Versalhöhe hinausragen sollen. Dass bewirkt, dass bei einem Zeilenabstand von 120% der Schriftgröße, die Unterlängen die Versalakzente der nachfolgenden Zeile nicht berühren. Das ist das, worauf sich die meisten Anwender der Creative Suite verlassen. Viele tun das übrigens bereits seit der Einführung von QuarkXPress (1987) und, wenn mich nicht alles täuscht, sogar seit PageMaker (1985).

    Den Vorwurf, die neue DIN 16507-2 sei nicht digital oder international genug, kann ich nur begrenzt nachvollziehen. Größen wie „em“ und „px“ beziehen sich schließlich auf die Kegelhöhe. Die Tatsache, dass die Viewport Sizes dieselbe Schriftgröße an die Breite eines Browserfensters anpassen, hat keinen Einfluß darauf, wie Schriftgestalter und -Hersteller ihre Schriften in die Kegelhöhe hineinpassen. Das Gleiche gilt für eine als ideal gedachte Anzahl von Zeichen pro Zeile auf einer Spaltenbreite. Letzteres ist eine Anforderung, die nicht den Bezug der Schrift auf die Kegelhöhe selbst betrifft, sondern die Größe, in der eine Schrift dargestellt wird. Wer wissen möchte, bei welchem Betrachtungsabstand eine bestimmte Schriftgröße gut leserlich ist, kann in der DIN 1450 Leserlichkeit nachschauen. Der Wunsch nach Internationalität ist berechtigt. Ein ISO-Verfahren ist jedoch kostspielig und kann nicht ohne vorherige Absicherung der Finanzierung losgetreten werden. Bemühungen, die auch in Deutschland ansässige Firma Monotype hieran zu beteiligen liefen vor einigen Jahren leider ins Leere. Aktuell beteiligt sich die Firma leider noch nicht einmal im Ausschuss „Schriften“. An dieser Stelle sei bemerkt, dass die englische Fassung der DIN 1450 Leserlichkeit demnächst veröffentlicht wird. Damit hätten wir wenigstens eine Vorlage für eine ISO-Norm. Vielleicht könnte die Veröffentlichung einen Anlass bilden, sich über dieses Thema zu unterhalten?

    Zu guter Letzt, da immer nur mein Namen fällt: Im Zeitraum, in dem der Ausschuss die DIN 16507-2 überarbeitet hat, waren neben meiner Wenigkeit Florian Adler (www.leserlich.info), Johannes Bergerhausen (FH Mainz, http://www.decode-Unicode.org), Franz Kuck (Stadt Bad Oldesloe), Indra Kupferschmid (FH Saar), Gertrud Nolte (FH Würzburg) und Axel Stockmar (Lichttechnik), Mitglied im Ausschuss »Schriften«. Seit Anfang dieses Jahres arbeitet der extra hierzu erweiterte Ausschuss an der seit langem fälligen Aktualisierung der DIN 16518 – Schriftklassifikation aus 1964. Zu gegebener Zeit werden wir darüber informieren.

  3. Vieles in der Typografie folgt noch (ur)alten Regeln, Einheiten und Begriffen. Dennoch:
    Es scheint eher der Versuch zu sein, aus einer Sache Geld zu holen, bevor es durch die Digitalisierung und Technologien komplett überholt ist.
    Wer z. B. mal Texte in unterschiedlichen Sprachen und Schriften (latein, kyrillisch, griechisch, arabisch, chinesisch, …) gesetzt hat, (er)kennt das Problem.
    Zeichen verhalten sich wie Töne, mal laut, mal leise, lang, kurz, mal hoch dann tief usw. Und ergeben zusammen eine Komposition, deren Ursprung und Werk dem Urheber gehört.
    Messbar ja, aber niemals einer Norm folgen sollte.

  4. Der Autor vertauscht – ausgerechnet in der Schlussfolgerung seiner Betrachtung – etwas ganz Grundlegendes: Nämlich die Relevanz nationaler Normung und die Relevanz von DIN. Denn: Gerade in Zeiten der Digitalisierung gewinnt die Normung an Bedeutung. Richtig ist, dass die digitale Welt keine Ländergrenzen kennt, die nationale Normung also an Bedeutung verliert. Das DIN allerdings keineswegs. Denn gerade wegen der Digitalisierung arbeitet das DIN mittlerweile in mehr als 75 Prozent der Fälle international (also auf EN- oder ISO-Ebene). Die digitale Welt auf das www zu reduzieren, lieber Herr Siebert, ist ebenso zu klein gedacht.

  5. Wer das braucht? Grafiker brauchen das. Weil es zum Beispiel für Verpackungen Vorschriften zu Mindestschriftgrößen gibt. Und da sind Angaben, wie man die Schriftgröße misst, nötig. Wie zum Beispiel misst man bei den Ziffern der FFAcanthus die Größe? Vielleicht sollte ein Marketingmanager sich erstmal mit der Materie beschäftigen, bevor er eine launische Kolumne schreibt?

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