Bild: Norman Posselt
Vor vier Wochen schrieb ich an dieser Stelle über den Wert der flüchtigen Begegnungen, die uns Corona genommen hatte. Sie bringen neue Themen und Ideen in unseren Alltag. Nun können sie wieder stattfinden. Aber ist unser Antrieb dafür noch intakt? Die Neugier?
Im August 1930 bemerkte Albert Einstein in seinem Grußwort zur 7. Berliner Funkausstellung, dass der Urquell aller technischen Errungenschaften die Neugier sei – neben dem Spieltrieb der Forschung und der konstruktiven Fantasie von Erfinderinnen und Erfindern. Er selbst habe, so Einstein, keine besondere Begabung, er sei nur leidenschaftlich neugierig. Auch viele Schriftsteller-, Künstler- und Unternehmer:innen, die der Welt etwas Bleibendes hinterlassen haben, betrachten die Lust auf Neues als ihren wichtigsten Antrieb.
Schauen wir uns heute um, in einer vernetzten Welt, die Wissensdurstigen alle Tore offenhält, stellt sich bisweilen die Frage: Haben wir in der Politik, der Wirtschaft oder in den kreativen Berufen eigentlich noch Appetit auf diese einzigartige menschliche Fähigkeit, die uns voranbringt? Warum prägen unser Land seit Jahren Grundeinstellungen wie »Weiter so«, »Besser gar nicht als falsch« oder »Haben wir immer so gemacht«?
Wenn es der repressiven Pädagogik unserer Schulen nicht gelungen ist, den letzten Funken Neugier in uns zu löschen, dann erledigt der Berufsalltag den Rest. Tägliche Routinen, wöchentliche Meetings, effizientes Arbeiten, die Pflicht, immer präsent zu sein, und die Tendenz, feste Beziehungen von den lockeren innerhalb der Teams zu trennen und zu pflegen . . . wo ist da noch Zeit, etwas anderes auszuprobieren oder in die eigene Schöpfungskraft zu investieren? Wie soll man etwas Neues entdecken in einem Alltag, der keinen Raum für Spiel und Experiment bietet?
Neugierkiller lauern überall, aber alles aufs System zu schieben wäre zu einfach. Es liegt auch an uns selbst, diesen kreativen Muskel zu trainieren. Unsere Neugier kann schon morgen wieder wachsen, wenn wir statt des bequemen, eingefahrenen Weges einfach einen neuen einschlagen. Hier fünf Ideen:
1. Kauf dir ein Buch, das thematisch auf einer anderen Wellenlänge liegt als die Titel, die dich für gewöhnlich interessieren. Bitte Freundinnen und Freunde um eine Empfehlung. Reserviere ein wiederkehrendes Zeitfenster fürs Lesen. Und wenn du keine Lust dazu hast: Ersetze Buch durch Film oder Museum . . . sie sind alle wieder geöffnet.
2. Erkundige dich bei Kolleg:innen, ob ihre Fähigkeit zur Neugier noch funktioniert. Antworten sie mit Nein, finde heraus, ob das schon immer so war und ob sie dadurch etwas vermissen. Antworten sie mit Ja, lass dich von ihren positiven Erfahrungen motivieren.
3. Frage immer nach, wenn du etwas nicht ganz verstanden hast. Dabei geht es weniger um die genauere Antwort als um deine Haltung. Fragen ist ein elementares Kommunikationsinstrument. Viele scheinen es verlernt zu haben und reden, als wüssten sie alles (besser). Tun sie aber nicht. Du wirst es erleben . . . wenn du nachfragst, wirst du dich fühlen, als würdest du gegen den Strom schwimmen.
4. Feiere Fehler. Auch hier geht es um einen Kulturwandel – und nicht um das eine Projekt, das du in den Sand gesetzt hast. Nur wer nichts tut oder immer dasselbe, macht keine Fehler.
Fragen und Fehler nicht zu kultivieren, sondern mit Noten zu bestrafen ist das größte Verbrechen unseres Schulsystems.
5. Beginne jetzt. Es braucht Zeit, die eigene Neugier zu aktivieren. Fang mit kleinen Schritten an. Gib deinem Gehirn Zeit, die vergessenen Pfade wiederzuentdecken. Je mehr du entdeckst, umso mehr sehnst du dich nach weiteren Entdeckungen. Und je mehr du weißt, desto mehr Verbindungen kannst du herstellen, aus denen neue Ideen entstehen.
Ja, die ständige Verfügbarkeit von Informationen und Unterhaltung kann eine abstumpfende Wirkung haben. Es ist zu einfach geworden, sich etwas herauszupicken und zu übernhemen.
Vielen Dank für den Denkanstoß und die fünf Ideen … da ist noch mehr möglich.