Siebert-Kolumne: Her mit den Überraschungen!
An die Kraft der flüchtigen Begegnung erinnert unser Kolumnist Jürgen Siebert
Bild: Norman Posselt
Fragt man Kolleginnen und Kollegen, was sie im Lockdown am meisten vermisst haben, lauten die Antworten: das Gespräch am Arbeitsplatz, essen gehen, ein spontaner Einkauf, Fernreisen, die Familie in der Heimatstadt besuchen. Alles sehr nachvollziehbare Bedürfnisse, die unsere Sehnsucht nach dem vertrauten Alltag zum Ausdruck bringen.
Tatsächlich lagen die härtesten Einschränkungen, gerade für Kreative und Kommunikator:innen, auf unsichtbaren Ebenen zwischen den (heruntergefahrenen) Notwendigkeiten … wie das Kirschwasser in den Biskuitböden einer Schichttorte. Es war der Wegfall ungeplanter Momente, der unser Leben reizlos gemacht hat. Wir haben das fast vergessen, nach 18 Monaten im Korsett der Einschränkungen.
Ein Smalltalk am Arbeitsplatz zum Beispiel bietet emotional mehr als eine Besprechung im Konfi oder der Dialog von Schreibtisch zu Schreibtisch. Es sind die zufälligen Begegnungen, die wir vermissen: ein kleines Flurgespräch, die Plauderei an der Kaffeemaschine, die Mittagspause beim Italiener nebenan. Was dabei passiert, lässt sich weder in Zoom-Calls noch in digitalen Mitteilungen abbilden. Wir kennen ja nicht mal den Namen des Menschen, der uns morgens im Aufzug mit einem netten Kommentar aufmuntert.
»Schwache Beziehungen bringen neue Ideen und Ansichten in unser Leben«
Und damit wird klar, was uns beim Essengehen, Shoppen und Reisen wirklich vitalisiert: das Ungeplante, die Überraschungen. Der Kölner Soziologe Markus Gamper sagt über den Wert spontaner Augenblicke: »Schwache Beziehungen bringen neue Ideen und Sachverhalte in unseren Alltag. Starke Beziehungen haben wir zu Menschen, die uns ähnlich sind, die einen ähnlichen Alltag haben, zu Leuten, die das Gleiche lesen, die dieselben Serien schauen.«
Enge Freundschaften und die Familie sind unverzichtbar für das emotionale Gleichgewicht. Wird unser Leben darauf reduziert – wie eben im Lockdown –, laufen wir Gefahr, im eigenen Saft zu schmoren. Erst die losen Begegnungen bringen Neues in unser Leben. Das erweitert sowohl unseren Horizont als auch das kreative Inventar für den Job.
Die Sozialpsychologinnen Gillian Sandstrom und Elizabeth Dunn fanden in mehreren Studien heraus, dass Menschen mit einer größeren Zahl loser Bekanntschaften dazu tendierten, insgesamt zufriedener zu sein. Je mehr Interaktion sie mit solchen, vermeintlich Fremden hatten, desto glücklicher waren sie. Unter dem Motto »#Talking2Strangers« warben sie Anfang des Jahres im Netz für kurze Gespräche im Alltag – gegen den Corona-Blues.
Sicherlich lassen sich auch spontane Begegnungen planen. Man muss lediglich einen Raum für sie schaffen. Das war in den letzten Monaten nicht einfach. Daher ist die Instagram-Aktion #stayathomeportraits der Berliner Fotografin Leah Kunz umso bemerkenswerter. Am 3. April 2020 führte sie ihr erstes Videocall-Shooting durch und schrieb dazu: »Ehrlich gesagt, habe ich gerade ganz wenig Motivation für neue und kreative Projekte … So ganz ohne Fotos geht es aber auch nicht.«
Sie rief ihre Followerinnen dazu auf, eine Direktnachricht zu senden, falls sie Lust auf ein Gespräch und ein Foto hätten. Innerhalb eines Jahres entstanden so hundert Porträts von Frauen in ihrem Zuhause, flüchtige Begegnungen, kurze Besuche in fremden Räumen inklusive Smalltalk-Protokoll. Obwohl digital erschaffen, wirken die Aufnahmen durch die Nachbearbeitung wie analoge Fotografien.
Dieses Beispiel zeigt auch, wie eine Krise genutzt werden kann, um Neues hervorzubringen. Das ist ein schmerzhafter Prozess, und es gibt kein Patentrezept dafür. Und nicht jeder Mensch hat die Freiheit, mit etwas zu brechen und einen Neustart in Gang zu bringen. Doch alleine das Nachdenken darüber kann der Beginn einer Lösung sein.
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