Siebert-Kolumne: Effizienz ist ein Problem, keine Lösung
Warum wir uns vor zu viel Effizienz hüten sollten, erläutert unser Kolumnist Jürgen Siebert.
Bild: Norman Posselt
Kreativität basiert auf dem Prinzip Zufall. Sie ist nicht planbar. Doch das Wesen der Wirtschaft – auch der Kreativwirtschaft – ist, dass Selbstständige und Unternehmen Arbeitsprozesse ökonomisch organisieren, dass man sich selbst oder den Mitarbeitern Ziele setzt. Nach dieser Prämisse werden Budgets aufgesetzt, Stellenbeschreibungen verfasst und Jobs kalkuliert. Dabei kommt jedes Schräubchen unter die Effizienzlupe: Arbeiten wir wirklich in allen Bereichen wirtschaftlich?
Der Kapitalismus vergöttert die Effizienz. Wer die Herstellungs- und Betriebskosten so schlank wie möglich hält und daraus einen maximalen Profit schlägt, gilt als Musterunternehmer. Doch Effizienz ist ein gefährlicher Kompagnon. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wohin Einsparungen führen. Krankenhäuser und Gesundheitsämter wurden so ausgestattet, dass sie normale Zeiten bewältigen können, aber keine Katastrophen. Produktions- und Lieferketten brachen zusammen … nicht beim Toilettenpapier, sondern bei Schutzkleidung und Masken.
Warum hat die Zivile Notfallreserve der Bundesrepublik Deutschland nicht schon längst Mund-Nasen-Schutz-Vorräte eingelagert? Ein scheinbar ineffizienter Vorgang, der während der ersten Welle in Pflegeheimen und Krankenhäusern Leben gerettet hätte. Eine der vielen Lehren aus Corona: Verwaltung und Unternehmen müssen lernen, weniger effizient zu wirtschaften, um für Unvorhersehbares gerüstet zu sein. Bewegung braucht Raum.
Effizienz verhindert auch neue Ideen. Ist ein Job knapp kalkuliert, bleibt keine Zeit für das Kreieren einer außergewöhnlichen Lösung. Das Ergebnis wird Standard sein.
Effizienz verhindert auch neue Ideen. Designer und Entwickler wissen sofort, wovon ich rede. Ist ein Job knapp kalkuliert, bleibt keine Zeit für das Kreieren einer außergewöhnlichen Lösung. Das Ergebnis wird Standard sein. Dass unsere Schulen bei der Digitalisierung oder alternativen Unterrichtsformen überfordert sind, liegt auch daran, dass es für Leitung und Lehrkräfte keine sogenannten Leerlaufphasen gibt, in denen man die Alltagsprozesse mal infrage stellen könnte.
Interessanterweise gibt es Industriezweige, die von der Ineffizienz leben. Versicherungen zum Beispiel. Würde man deren Businessmodell als Kunde streng nach Nutzen bewerten, wäre jedes Jahr ohne einen Diebstahl oder Wasserschaden die reinste Geldverschwendung. Die Mehrheit der Versicherten würde finanziell besser dastehen, wenn sie ihre Versicherungen sofort kündigt. Eine Minderheit würde es allerdings die Existenz kosten. Zum Glück sorgen in vielen Bereichen Gesetze dafür, dass wir kein Leben auf der Rasierklinge führen. Eine Krankenversicherung ist genauso Pflicht in Deutschland wie etwa eine Kfz- oder Feuerversicherung.
Manche Kreative verordnen sich (unbezahlte) Zwangspausen. Stefan Sagmeister schließt alle sieben Jahre sein New Yorker Büro für ein Jahr, um seine schöpferische Energie zu regenerieren. Auf Konferenzen wie TED oder TYPO präsentierte er die positiven Effekte eines solchen Sabbaticals, etwa eine Neuorientierung durch Abstand, die Verwirklichung eines lang geplanten Projekts oder die Vorbeugung von Burn-out. Laut der »XING Sabbatical-Studie« von 2017 beschäftigt sich ein Drittel der Arbeitnehmer mit diesem Thema, und schon 20 Prozent der Unternehmen fördern Sabbaticals aktiv.
Corona und dessen Auswirkung auf die Präsenz am Arbeitsplatz dürfte das Thema Auszeit wieder in den Vordergrund rücken. Aber Vorsicht: Lockdown und Homeoffice sind noch kein Sabbatical. Sie liefern allenfalls einen Vorgeschmack darauf. Doch für manche Unternehmen könnte der befristete unbezahlte Ausstieg von Mitarbeiter*innen – eine/r oder mehrerer – gerade jetzt eine sinnvolle Strategie sein, als Alternative zu Kurzarbeit oder dem Verlust von Talenten durch Entlassung.
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