Siebert-Kolumne: Die Zukunft des Buches
Die diesjährige Buchmesse hat die Schwächen der Branche offengelegt, meint unser Kolumnist Jürgen Siebert
Bild: Norman Posselt
Vor drei Wochen fand die Frankfurter Buchmesse statt . . . und keiner hat’s gemerkt. Ketzerische Frage: Hat sie jemand vermisst? Dass sie dieses Jahr anders war, erlebte ich am Morgen des zweiten Messetags. Ich hatte gerade die ersten Zeilen dieses Beitrags geschrieben, coronabedingt im Homeoffice und nicht im Pressezentrum der Messe. Auf der Suche nach Zahlen zur Lage der Buchbranche schrieb ich einfach eine Mail an Karin Schmidt-Friderichs, Verlegerin und seit einem Jahr Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Veranstalter der Buchmesse.
Zugegeben: Ich wollte auch mal testen, ob die Digitalisierung der Buchmesse ganz oben angekommen ist. Noch im letzten Jahr wäre meine Mail mit einem Autoreply quittiert worden, Tenor: »Wir sind gerade nicht erreichbar, weil wir unsere Neuerscheinung in Halle x, Stand x präsentieren.« Da ich jedoch überzeugt war, dass auch Karin Schmidt-Friderichs die Live-Streams der virtuellen Buchmesse 2020 am Bildschirm verfolgt (Motto: All together now!), versuchte ich mein Glück.
In den bis dahin verfassten drei Absätzen hatte ich meiner Außensicht und den gefühlten Wahrheiten rund um den deutschen Buchmarkt freien Lauf gelassen. Ich bin seit Langem der Ansicht, dass dieser von der Politik mindestens so gehätschelt wird wie die Auto- und Finanzindustrie. Stichwort: Buchpreisbindung, ermäßigte Mehrwertsteuer, Systemrelevanz. Bücher sind selbstverständlich wichtig, doch solche Schutzmäntelchen hindern Branchen daran, von alten Geschäftsmodellen Abschied zu nehmen und sich der Zukunft zuzuwenden. Und so haben die Verlage die Digitalisierung verschlafen. Den Umsatzzweig E-Book hat man mit unattraktiven Preisen und mieser Technik bewusst ausgetrocknet, was den Weg für Amazon freimachte: Fast 60 Prozent der Umsätze streicht das Kindle-Imperium ein.
Das Telefon klingelt, nur 30 Minuten nach meiner Mail. Karin Schmidt-Friderichs ist dran. Zwei Tage zuvor hat sie die Messe eröffnet und vom »Wunder der Buchbranche« gesprochen. Hier hake ich ein. Die Buchbranche sei digitaler aufgestellt, als allen bewusst war, sagt sie. Die Zahlen kommen wie aus der Pistole geschossen: »Seit Corona haben 17 Prozent der Kunden im Onlineshop ihrer Lieblingsbuchhandlung eingekauft . . . insgesamt elf Millionen Menschen, davon eine Million zum ersten Mal.« Eine Umfrage habe ergeben, dass ein Drittel der 10- bis 19-Jährigen seit Corona mehr lesen, bei den 20- bis 29-Jährigen sind es ein Viertel. Was den Absatz angeht, stellt sich die Situation sehr gemischt dar, vor allem im Sachbuchbereich. Der auf Garten-, Haustier-, Back- und Naturbücher spezialisierte Verlag Ulmer verzeichnet Rekordumsätze, während der Verkauf von Reiseführern um 90 Prozent eingebrochen sei.
Doch – und so kenne ich Karin Schmidt-Friderichs – die Krise sei auch eine Riesenchance für die Branche und die beiden Messen. Leipzig wird 2021 um zwei Monate auf Ende Mai verschoben, damit viele Veranstaltungen im Freien stattfinden können. Für Frankfurt erwartet sie eine »erfrischende Mischung« aus digitalen und physischen Begegnungen.
Während das Buch relativ gut durch die Corona-Zeit zu kommen scheint, sieht die Zwischenbilanz der Buchmesse trübe aus. Was im Netz stattfand, war nicht mehr als ein Test. Kaum Inspiration, null Interaktion. Ein digitales Event springt nicht einfach so an wie ein Messedampfer. Das Durcheinander auf der Buchmesse-Homepage erinnerte daran, dass sie als Begleitmedium für ein Präsenzevent programmiert wurde, nicht aber für einen digitalen Austausch. Follower und Multiplikatoren müssen über Monate aufgebaut und gepflegt werden. Digital heißt auch nicht, alle Inhalte über einen Kanal (powered by ARD!) ins Netz zu kippen. Damit lockt man weder die 300 000 Besucher, die sonst vor Ort waren, noch das potenzielle Millionenpublikum weltweit. Im Digitalen muss man die Menschen dort erreichen, wo sie sind.
Die digitale Ausgabe der Buchmesse hat bewiesen, dass sie seit Jahren in einer Blase gewirtschaftet hat. Die Veranstalter haben nichts aus dem weltweiten Sterben der Buchläden gelernt, dem Bindeglied zwischen Verlagen und Lesern. Es wurde ignoriert, dass digitale Formate das gedruckte Buch links und rechts überholen. Frankfurt muss sich bis zum Oktober 2021 ernsthaft Gedanken darüber machen, welche Rolle das klassische Buch und seine digitalen Begleiter in fünf Jahren spielen werden . . . und damit auch die eigene Rolle neu definieren.
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