Unser Kolumnist Jürgen Siebert denkt Dieter Rams weiter.
Bild: Norman Posselt
Wie oft wünsche ich mir, dass Dieter Rams noch aktiv wäre. Oder dass mehr Berufskolleginnen und -kollegen in seinem Sinne Produkte und Dienstleistungen gestalten würden. Warum hat Braun in den 1980er Jahren den Glauben ans Design verloren? Diese Frage müssen wir unbedingt beantworten, sonst kommen wir nicht weiter: bei der Designqualität und in Sachen nachhaltiger Wirtschaft.
Dieter Rams’ 10 Thesen zu gutem Design sind so einfach, so verständlich und so minimalistisch, dass ich sie hier komplett auflisten kann, ohne Platz zu verschwenden: Gutes Design ist 1. innovativ, 2. macht ein Produkt brauchbar, 3. ist ästhetisch, 4. macht ein Produkt verständlich, 5. ist unaufdringlich, 6. ist ehrlich, 7. ist langlebig, 8. ist konsequent bis ins letzte Detail, 9. ist umweltfreundlich und 10. es ist so wenig Design wie möglich.
Mag sein, dass dieses Konzentrat bei vielen Kreativen auf dem Schreibtisch liegt oder an der Wand hängt, als eine Art frommer Wunsch. Weil: Mein Kunde spielt da nicht in allen Punkten mit. Ja, wenn man nicht dafür kämpft. Der Dekalog sollte zu Beginn und am Ende eines jeden Jobs wie eine Checkliste überprüft werden. Und wenn irgendwo ein Häkchen fehlt, müssen wir mit den Auftraggeber:innen darüber diskutieren, ob nicht auch der letzte Punkt abgehakt werden kann.
Was Dieter Rams nicht sagt: Welchen Geltungsbereich haben diese 10 Gebote überhaupt? Mag sein, dass sie für ihn selbst als Abteilungsleiter nur vom Zeichenbrett bis zur Ateliertür gültig waren und nicht bis hoch in die Unternehmensführung. Tatsächlich bildeten sie für Braun der Grundstein der Markenidentität, wie PAGE im Februar 2020 berichtete, als die Vorlage für die 10 Thesen ans Licht kam. Der langjährige Designvorstand Fritz Eichler (1967 bis 1973) schrieb sie als »Leitsätze zum Braun-Design« in den Geschäftsbericht 1972/73. Dort steht gleich an Position 1: »Die Voraussetzung für gutes Design ist ein klares Unternehmenskonzept, in dem Design als Aufgabe des gesamten Unternehmens definiert ist.« Voilà.
Warum hat Braun in den 1980er Jahren den Glauben ans Design verloren? Diese Frage müssen wir unbedingt beantworten, sonst kommen wir nicht weiter: bei der Designqualität und in Sachen nachhaltiger Wirtschaft
Tatsächlich entstehen designgetriebene Marken erst, wenn Designer:innen in die Führung des Unternehmens eingebunden sind, so wie es bei Porsche, Braun oder Apple der Fall war. »Ein Unternehmen, das heute keinen Designer im Vorstand beschäftigt, hat in Zukunft verloren«, erklärte Audi-Manager Othmar Wickenheiser bereits 2000 in einem »Brand eins«-Interview. Und damit haben wir auch die Antwort auf die Frage zum Niedergang der Designmarke Braun: Mit dem Weggang Fritz Eichlers 1973 verließ ein maßgeblicher Kopf den Vorstand, der Design als integrierte und interdisziplinäre Innovationskraft eingesetzt hat, angesiedelt zwischen Technik, Werbung und Marketing.
Glücklicherweise hat das Design Thinking in den letzten Jahren einen Sinneswandel in vielen Unternehmensführungen eingeleitet. Zur Erinnerung: Es ist ein Managementansatz, der zum Lösen von Problemen und zur Entwicklung neuer Ideen führen soll und erst mal nichts mit Design zu tun hat. Es geht primär um das Entschlacken bürokratischer Prozesse und die Beschleunigung von Produktzyklen, damit in stagnierenden Unternehmen Raum für Spontaneität und Kundennähe entstehen kann. Mitarbeiter:innen werden zu Mitgestaltenden. Design Thinking versetzt sie in die Lage, Innovationen zuzulassen: Es ist ein Weg, (noch) nicht das Ziel.
Innovation ist nicht das, was sich ein Unternehmen ausdenkt, sondern das, was die Konsument:innen annehmen.
Mit dieser Herangehensweise hat sich auch die Superkraft des Designs verändert. Es geht heute nicht mehr nur darum, die Krümmung von Kurven oder ein Farbklima zu entwickeln, sondern zwischen Marken und ihren Zielgruppen zu vermitteln. Designen heißt übersetzen, nicht von Sprache, sondern von Lösungen.
Weil sich immer noch zu viele Unternehmen als die eigentlichen Erfinder eines Produkts oder einer Dienstleistung betrachten, wird das Design meist zu spät in den Prozess einbezogen, um etwas schönzumachen oder die Hüllen für ein fertiges Produkt zu entwickeln. So läuft das aber heute nicht mehr. Innovation ist nicht das, was sich ein Unternehmen ausdenkt, sondern das, was die Konsument:innen annehmen. Aus »Vorsprung durch Technik« ist »Vorsprung durch Kundenorientierung« geworden.
Die nachhaltigste Innovation ist die, mit der sich diejenigen, die sie nutzen, einfach und schnell identifizieren.
Die nachhaltigste Innovation ist die, mit der sich diejenigen, die sie nutzen, einfach und schnell identifizieren. Das ist gerade für den deutschen Mittelstand eine große Herausforderung – und für alle Kreativen, die für ihn arbeiten. An der Schwelle zum Internet der Dinge und angesichts immer mächtigerer Online-Giganten reicht deutsches Engineering alleine nicht mehr aus, um am Markt erfolgreich zu sein. Im Idealfall sitzen Designer:innen von Anfang an mit der Entwicklungsabteilung, dem Marketing und Verkauf zusammen und sind Geburtshelfer, Handwerkerinnen, Psychologen und Erfinderinnen in Personalunion. Als 11. Gesetz könnte man das im Rams’schen Stil so verkürzen: »Gutes Design ist Chefsache.« Heute natürlich: Chef:innensache.
Der Mann hat ja soooo Recht.
Wenn diese Einsicht doch bloß auch in besagten Etagen Fuß fassen würden …