Jürgen Siebert über die Zukunft des geschriebenen Wortes.
Im Juni kündigte Facebook-Managerin Nicola Mendelsohn auf der Fortune-Konferenz das Ende des geschriebenen Wortes an: »In fünf Jahren ist Facebook endgültig mobil und basiert wahrscheinlich ganz auf Video.« Klingt irgendwie apokalyptisch – trotz der Hoffnung, dass es dort dann auch keine Hasskommentare mehr zu lesen gibt. Oder werden die per Video vom Sofa aus im Bademantel gestreamt? Noch mal Mendelsohn: »Die beste Art, Geschichten in dieser Welt zu erzählen, wo Unmengen von Informationen auf uns einströmen, ist Video.«
Die Reaktionen auf diese Prognose kamen prompt. »Facebook liegt falsch, Text ist unsterblich«, schrieb zum Beispiel Tom Carmody auf kottke.org. »Text ist preiswert, flexibel und diskret … er lässt sich endlos weiterverarbeiten, durchsuchen und für andere Dinge verwenden.« Und ja: Das geschriebene Wort ist die minimalste Methode, Gedanken festzuhalten, zu transportieren und aufzunehmen. Natürlich könnte ich diesen Text hier auch per Video veröffentlichen. Doch meine Worte wären weniger präzise, sie wären von einer Unmenge visueller Redundanzen überlagert, und es fiele Ihnen ungleich schwerer, meine Gedanken aufzunehmen … verglichen mit der Methode, die wir an dieser Stelle seit 25 Jahren praktizieren.
Anders als Facebook sucht Apple nicht das Heil in der Videoisierung, sondern setzt auf das geschriebene Wort als Regisseur eines multimedialen Drehbuchs
Zum Glück gab es am Tag vor Mendelsohns Rede einen visionären Auftritt in San Francisco, der dem geschriebenen Wort eine großartige Zukunft verspricht, in der sogar Tippen und Handschrift vereint sind. Apple stellte auf der WWDC ihre Pläne für das im Herbst erscheinende iOS 10 vor. Für Begeisterung sorgte unter anderem die erweiterte Nachrichten-App. Die neue Generation multimedialer Messenger, wie etwa Snapchat, hat die Entwickler aus Cupertino wohl dazu bewogen, ihren eigenen Messenger massiv auszubauen … Doch anders als Facebook sucht Apple nicht das Heil in der Videoisierung, sondern setzt auf das geschriebene Wort als Regisseur eines multimedialen Drehbuchs.
Die starke Akzeptanz der Emojis zeigt, dass die bildliche Ergänzung von Text auf breiter Basis angenommen und praktiziert wird (siehe meine Betrachtungen in PAGE 08.15). Apple reagiert darauf, indem reine Emoji-Mitteilungen in Zukunft dreimal größer dargestellt werden als die Symbole im Textverbund. Getippte Messages lassen sich vorm Senden »emojisieren«: Das System erkennt automatisch Begriffe mit Emoji-Zuordnung, etwa Liebe (=), essen (=) oder Pizza (= ). Sticker und visuelle Quittungen (, ) ergänzen die Bildersprache.
Bald kann man direkt in der Nachrichten-App zeichnen, scribbeln und schreiben und das Ergebnis sogleich versenden. Die »Digital Touch« genannte Methode erlaubt das Signieren von Fotos, einen Gruß auf dem Titelbild eines Videos oder ein separates Lettering. Sprechblasen-Effekte werden den Nachrichten zudem eine »visuelle Lautstärke« geben, von Flüstern bis Brüllen. Selbst Zaubertinte ist im Angebot: Erst beim Darüberstreichen wird eine Nachricht lesbar. Wem dies alles nicht reicht, der kann seiner Mitteilung mittels Hintergrundanimationen eine Showbühne bereiten, von Luftballons über Konfetti bis hin zum Feuerwerk. Medieninhalte wie Video oder Musik lassen sich direkt in den Nachrichten-Blasen abspielen, liken, speichern oder weitergeben.
Der wichtigste Schritt ist jedoch das Öffnen der Anwendung für Developer. Die iPhone-Vergangenheit hat gezeigt, dass die kollektive Weiterentwicklung die schnellsten und besten Apps liefert, bald also iMessage-Apps. Einige wurden schon gezeigt, zum Beispiel die Überweisungs-App Square Cash. Mit ihr lassen sich nicht nur Versandartikel bezahlen, sondern auch Überweisungen von privat zu privat durchführen … direkt aus dem Messenger, ohne eine App zu starten.
Damit scheint sich auch eine These vom Beginn des Jahres zu bewahrheiten: Messenger können bald alles. Aber sie lösen nicht die Apps oder das Internet ab, sondern sie dirigieren die Kommunikation mit den Accounts sowie die Funktionalitäten der Apps. Gesteuert werden die Prozesse Gott sei dank mit Text, also keine Sprachmenüs, keine Siri, keine Cortana … Schöne neue Schreibwelt.