Unser Kolumnist Jürgen Siebert empört sich über die Empörung.
Humor hat sie, die Alice Salomon Hochschule (ASH) Berlin. In Anspielung auf einen selbst initiierten Konflikt wirbt sie mit dem Claim »Mehr als Fassade« für ihre vier Bachelor- und zwölf Masterstudiengänge. Zu bundesweiter Bekanntschaft gelangte sie Anfang des Jahres, weil sie demnächst ein Gedicht an ihrer Fassade übermalen wird, das bei Studierenden auf Befindlichkeiten stieß.
Seit 2011 prangen an der fensterlosen Südseite der ASH die 20 spanischen Wörter des Gedichts »avenidas«, 1951 verfasst von dem bolivianisch-schweizerischen Schriftsteller Eugen Gomringer, den die Hochschule im selben Jahr mit ihrem Poetikpreis ausgezeichnet hatte. Sie lauten übersetzt: »Alleen/Alleen und Blumen/Blumen/Blumen und Frauen/Alleen /Alleen und Frauen/Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer«. Die Schriftstellervereinigung PEN und der Kulturrat bezeichneten die Auslöschung als Zensur, konnten den Beschluss aber nicht verhindern.
Nicht nur in Berlin wird gerade herausgeschnitten, übermalt, abgehängt und entfernt. In Hamburg landete die geplante Ausstellung von US-Modefotograf Bruce Weber auf Eis, die Manchester Art Gallery nimmt das Gemälde »Hylas und die Nymphen« aus dem 19. Jahrhundert von der Wand, Regisseur Ridley Scott entfernte alle Szenen mit Kevin Spacey aus seinem letzten Film und ließ sie mit einem anderen Schauspieler nachdrehen.
In all diesen Fällen wird als Grund Political, genauer Sexual Correctness ins Feld geführt. Die Debatten dazu sind von großer Leidenschaft geprägt. Kritiker sprechen von einem Bildersturm, und das verleiht den Diskussionen erst recht Zunder. Bedroht die politische Korrektheit die Freiheit der Kunst? Bisher kannte man derartige Retuschen nur von den Propagandaabteilungen totalitärer Staaten. Oder von Umstürzen: keine Revolution, kein Umbruch ohne Bildersturm. Ob Reformation, Französische Revolution, die Nazis mit ihrer »entarteten Kunst« . . . ja, selbst der Mauerfall brachte Statuen und Gemälde zum Verschwinden. Nun fragt man sich: Um was für eine Revolution geht es hier?
Vielleicht ist es eine schleichende Revolution, die sich nicht auf der Straße vollzieht, sondern in den sozialen Netzen. Diese haben dem Volk so viel Macht gegeben wie kein anderes Medium, wie keine andere Regierung zuvor. Und diese Macht spüren nicht nur Kulturschaffende, sondern auch Parteien, Unternehmen, Marken und Medien. Sie alle werden von den Verbrauchern in die Zange genommen. Und plötzlich sind wir umgeben von Verbotsforderungen, Tabuisierungen und Moralisierungen.
Aktuell geht es um die Frage, inwieweit Kunstwerke tragbar sind, wenn der Künstler Verfehlungen begangen hat. Tatsächlich ist diese Debatte nicht neu, sie betraf auch schon Randdisziplinen der Kunst, zum Beispiel den Schriftentwerfer Eric Gill (1882–1940). Weil dieser seine älteren Töchter missbrauchte, verbietet es sich für anständige Typografinnen und Typografen, seine Schriften Gill Sans und Joanna zu benutzen.
Früher hat man derartige Entscheidungen für sich selbst getroffen. Heute genügt ein Klick oder ein Hashtag, um die Öffentlichkeit daran teilhaben zu lassen oder zu mobilisieren. Das ist auf der einen Seite herrlich demokratisch, auf der anderen ist damit eine Verantwortung verknüpft, mit der auch Kommunikationsprofis zuweilen überfordert sind: Man denke nur an die Shitstorms, die manche Journalisten und Politiker aushalten müssen.
Die Anliegen der digitalen Revolutionäre sind durchaus ehrenhaft. Reduziert auf einen Hashtag und verstärkt im Netz, kondensiert eine Diskussion aber ganz schnell zur Ja/Nein-Option. »Mit den Ideen der Aufklärung, zum Beispiel Freiheit und Menschlichkeit, hat das nichts mehr zu tun«, schreibt »ZEIT«-Kolumnist Harald Martenstein und sieht uns auf dem Weg zu einer neuen Gesellschaft.
Aus dieser Empörungsspirale kommen wir nur heraus, wenn wir uns gegenseitig wieder die individuelle Entscheidung zugestehen.
Die Eröffnung der Berliner Filmfestspiele Mitte Februar macht Hoffnung. Unter dem Hashtag #NobodysDoll rief Schauspielerin Anna Brüggemann ihre Kolleginnen dazu auf, sich für den roten Teppich so zu kleiden, dass sie sich wohlfühlen. Das war schon mal weniger diktatorisch als der #MeToo-Schwarze-Kleider-Zwang bei den Golden Globes vier Wochen zuvor. Und das Ergebnis stimmte optimistisch: Nie zuvor gab es auf dem roten Teppich der Berlinale mehr Garderobenvielfalt. Und mehr glückliche Gesichter.