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Digital-Analog-Versöhnung

Jürgen Siebert freut sich über die Rückkehr des Flat Design – und ist gespannt auf die weiteren Trends des Jahres …

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Wahrscheinlich wird das Jahr 2016 im Rückblick als der Beginn der friedlichen Koexistenz von Digital und Ana­log in die Geschichte eingehen. Mitte November fragte mich der Freund mei­ner Tochter am Esstisch: »Was habt ihr eigentlich damals mit all den Platten gemacht, nachdem ihr die Musik ge­hört hattet?« So denkt die Generation Spotify. Zumindest eine Hälfte davon.

Denn nur vier Wochen später vermeldet die britische Musikindustrie, dass sie in der zweiten Dezemberwoche mehr Geld mit Vinyl als mit Down­loads umgesetzt habe. Nicht nur Musikfreaks und Audiophile griffen zum schwarzen Gold, sondern auch Teen­ager und Menschen unter 25 Jahren. Die Vorsitzende der Entertainment Re­tailers Association, Kim Bailey, erklärt, es ge­be eine neue Generation, die die Platten ihrer Lieblingsmusiker kaufe, um sie zu sammeln. »Es ist eben sehr schwer, die Liebe zu einem Künstler zu pflegen, wenn man nichts zum Anfassen hat«, sagt Kim Bailey. Das erste Anzeichen für die Digital-Analog-Versöhnung ist also: Im Digitalen wird gefiltert, im Physischen verwahrt.

Warum feiert eigentlich die CD kein Comeback? Ganz einfach: Sie hat keine Wärme, keinen analogen Stallgeruch. Sie war der erste ökonomische Superstar des Digitalzeitalters. Ihr Klang entspringt digitalen Daten. Auch optisch bietet die CD nichts zum Verlieben, im klap­prigen Jewelcase, ausgestattet mit einem Mini-Booklet. Wie hatte be­reits der erste PAGE-Artdirektor, Hark Weidling, 1987 prophezeit: »Die CD wird sich nicht durchsetzen, weil es kein reizvolles Grafikdesign auf 12 mal 12 Zentimetern geben kann.« Er wuss­te, dass zum Verlieben immer auch ein Augenschmaus gehört.

Dreißig Jahre später ist die CD tatsächlich am Ende, und die Vinyl-LP er­lebt ihren zweiten Frühling. Der Grund dafür ist – neben dem Visuellen und Haptischen – ein Mentalitätswandel. Viele Menschen widmen sich wieder verstärkt dem Analogen, bringen Bild­schirmzeit und echtes Erleben ins Gleichgewicht (zweites Indiz). Das Ri­tual, eine Langspielplatte zum Klingen zu bringen, ist vergleichbar mit dem Öffnen einer Weinflasche. Ganz bestimmte Handgriffe, keine Ablenkung, ein Schritt nach dem anderen: aus­packen, auflegen, genießen. Repeat-Taste drücken. So ging das schon damals, ihr Spotifyer! »Abbey Road« hab ich mir tagelang angehört, alleine und zusammen mit Freunden. Wir ha­ben jedes Detail des Coverfotos erforscht . . . und Fake News daraus gebaut: Paul ist tot.

Jahrelang haben wir die reale Welt im Netz abgebildet …  Jetzt kommt das Digitale zurück ins echte Leben: unerwartet, attraktiv, einfach

Als drittes Phänomen deutete sich 2016 der Rückfluss digital gezeugter Werke ins echte Leben an. Jahrelang ha­ben wir die reale Welt ins Netz trans­portiert: Bücher, Fotos, Texte, Filme, Nachrichten, Daten, Services . . . Und plötzlich wird vieles wieder zurück ins Analoge entlassen. PayPal wird »das neue Geld«, Amazon eröffnet Super­märk­te, Labors komponieren aus digitalen Aufnahmen physische Fotoalben, On­line­drucke­reien haben Hochkonjunktur. Selbst digitale Grafikstile werden flügge, zum Beispiel Emojis und Flat Design.

Als ich im Frühjahr das neue Audi-Logo zum ersten Mal sah, dachte ich zunächst an einen Reproduktionsfehler. Kein Chrom, keine Struktur, keine Farbe . . . nur freigeschlagene Fläche. Radikaler geht’s nicht. Einfach alles weglassen, als müsste man Speicherplatz sparen wie 1984.

Die Wirkung des flachen Designs im realen Leben ist verblüffend. Ganz besonders im Bereich des Sportsponsorings. Die Ringe sehen am TV-Bildschirm aus wie gestanzt: aus der Kleidung, aus den Sportgeräten, aus den Banden. Das Logo war noch nie so auf­fällig. Ist irgendwie logisch: Während sich die 3D-Ausführung realistisch ins Leben einfügte, fällt die kaltblütige Zweidimensionalität im Realbild aus dem Rahmen.

Der Schritt von Audi war der letzte Beweis, dass Flat Design im echten Leben angekommen ist. Auch andere Mar­ken gingen bereits diesen Weg: Google, Mastercard, C&A, Parship und Subway zum Beispiel. Damit deutet sich an, dass 2017 ein spannendes Jahr für visuelle Gestalter wird. Welchen Grafikstil, welches Kommunika­tions­mittel exportieren sie als Nächs­tes in die Realität? In zwölf Monaten werden wir mehr wissen.

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