Scrollen statt klicken
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mmer zum Erscheinen der aktuellen Printausgabe der PAGE: »Die Fundstücke« von Jürgen Siebert. Freuen Sie sich über kühne Kommentare zu Trends, Entwicklungen, Ereignissen und dem ganz normalen Alltagswahnsinn eines Kreativen … Heute: Scrollen ist das neue Klicken.
Der griechische Philosoph Heraklit prägte einst die Formel »Panta rhei«, zu Deutsch: »Alles fließt«. Später wurde dann daraus: »Alles fließt und nichts bleibt; es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln.« Dieser Satz fällt mir ein, wenn ich an den neuesten Trend im Mediendesign denke: das Scrollen. Rein technisch ist es nichts Neues, sondern eine Erfindung der grafischen Oberflächen Mitte der 1980er Jahre. Die Technik offenbarte sich in Gestalt kleiner Schieber an der Seite von Programmfenstern, mit denen man verdeckte Inhalte ins Blickfeld rücken konnte.
Mit der schnellen Verbreitung von Touchscreens wurde das Scrollen in den letzten Jahren zur Geste, die inzwischen nicht nur unterwegs, sondern auch am Schreibtisch praktiziert wird. Es bedarf allerdings dafür zwei Voraussetzungen, um das mobile und das Schreibtisch-Scrollen als gleiche Handbewegungen (irgendwann nicht mehr) wahrzunehmen:
1. Aneignung der Trackpad-Scrollgeste (= Abschied von der Maus),
2. natürliche Scrollrichtung akzeptieren (= Inhalt folgt Fingerbewegung).
Wer dies tut, fühlt sich unterwegs auf Websites, Listen und Landkarten genauso zu Hause wie vorm Laptop am heimischen Schreibtisch. Und genau diese Eintracht von mobiler und stationärer Navigation führt dazu, dass wir weniger klicken und mehr scrollen. Oder anders ausgedrückt: Scrollen ist das neue Klicken.
Dieser Wandel macht Webdesignern schon seit Längerem Mut, die Benutzerführung ihrer Websites darauf abzustimmen. Die hohe Schule dieser Stilrichtung sind One-Page-Sites, bei denen weder geblättert noch geklickt wird … sondern nur noch gescrollt. Allein diese Geste löst alle notwenigen Mechanismen für diese Seiten aus.
Eine Vorlage für diese Entwicklungsrichtung wurde etwa der Jahresbericht des US-E-Mail-Dienstleisters MailChimp (http://mailchimp.com/2012). Die Interfacedesigner praktizieren hier das Parallax Scrolling, bei dem sich einzelne Ebenen der Seite unterschiedlich schnell bewegen. So setzen sie Akzente, betonen Inhalte und lassen Gelesenes wieder verschwinden. Das ist Benutzerführung mit nur einer Geste.
Ebenfalls Maßstäbe setzte der Designer Jon Salamon aus Schweden mit der Shopping-Site für die Kopfhörermarke Coloud (www.coloud.com). Beim Betrachten der drei angebotenen Modelle dient die Scroll-Geste dazu, die unterschiedlichen Farbvarianten durchzuspielen. Wie von Zauberhand wechseln die Farben eines Kopfhörers, ohne dass er sich auch nur einen Millimeter bewegt.
Ein schöner Nebeneffekt dieser eleganten Art der Benutzerführung, die ohne Knöpfe, Links und Navigation funktioniert, ist der frei gewordene Raum für die Inszenierung … ein Luxus, den wir bisher nur vom Papier kannten. Freuen wir uns auf besser Zeiten im Webdesign, mit formatfüllenden Fotos, groß gesetzten Catchwords und subtilen Farbspielereien.
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Vielleicht kommt das nicht klar rüber in meinem Beitrag: Es geht um die nächste Generation der Internet-Einseiter. Von Endlosseiten halte ich nicht viel, weil sie dem Betrachter im Unklaren lassen, was uns wie viel da noch kommen mag. Mir geht es um jene Scroll-Seiten, auf denen sich Inhalte und Funktionen allein durch die Bewegung nach unten offenbaren … so wie bei den beiden zitierten Beispielen.
Lieber Herr Grochtdreis,
wir berichten schon lange und regelmäßig über Webseiten, die nicht Flash-basiert sind.
Viele Grüße,
PAGE
Soso, der neueste Trend? Haben Sie jetzt erst aufgehört, nur Flash-Seiten als Webseiten zu betrachten, so wie es bei PAGE bislang üblich war? Onepager und endlos scrollende Seiten gibt es schon lange. Als AJAX (erinnern Sie sich?) als Hype hochgeblasen wurde waren Seiten, die man nicht mehr verlassen musste und die endlos scrollten, total in.
Das ist jetzt gefühlte Jahrhunderte her.