Achtsamkeit ist kein neues Thema. Aber wie sieht es damit eigentlich im Kreationsprozess aus? Wir haben bei Bureau Mitte aus Frankfurt nachgefragt.
Irgendwann kann man einfach nicht mehr. Wenn es nur noch darum geht, Kunden zufriedenzustellen, Deadlines einzuhalten, den nächsten Auftrag an Land zu ziehen und die Social-Media-Kanäle zu bedienen. Wenn man ständig gereizt ist, sich getreiben fühlt, schon von kleinen Dingen aus der Bahn geworfen wird und das Gefühl der Überforderung überhandnimmt. Dann kommt der Punkt, an dem man sich fragt, welchen Sinn die eigene Arbeit eigentlich hat, wenn sie nicht mal einen selbst glücklich macht.
Viele müssen erst an diesen Punkt kommen, um zu verstehen, dass sie mit selbst und ihrer Zeit achtsamer umgehen sollten. Kreative sind besonders gefährdet, weil wir dazu tendieren, sehr viel Herzblut in unserer Arbeit zu stecken. Was machen da schon die paar Überstunden? Dabei ist Achtsamkeit im Kreationsprozess besonders wichtig, um die Ressourcen für neue und kreative Ideen zu pflegen.
In PAGE 4.19 beleuchten wir, wie man es auch als Kreativer schafft, mal abzuschalten – und warum das so wichtig ist. Und Autor Frank Berzbach erkärt im Interview den Unterschied zwischen hingebungsvoller und auszehrender Arbeit. Die Ausgabe können Sie hier kaufen.
Für den Artikel sprachen wir außerdem mit Anna Ranches und Helene Uhl, Gründerinnen und Geschäftsführerinnen von Bureau Mitte in Frankfrut am Main.
Was bedeutet Achtsamkeit für euch? Ist es etwas, womit ihr euch bewusst beschäftigt – privat oder als Studio?
Für uns ist Achtsamkeit der Prozess des »aufmerksam seins«, das heißt, sich bewusst und fokussiert mit verschiedenen Themenbereichen auseinanderzusetzen und im Dialog mit seinem Umfeld zu stehen. Im Beruflichen bedeutet das für uns die ganzheitliche Auseinandersetzung mit einem Projekt. Auf der einen Seite steht das Design: Inhalt und Prozess, Designklassiker und Trends, Produktion und Nachhaltigkeit. Dem gegenüber befindet sich unser Kunde: Bedarf und Kerngeschäft, Zielgruppen und Märkte, gesetzte Gestaltungsrichtlinien und erschlossene sowie neue Kommunikationswege. In der Mitte fungieren wir als Schnittstelle zwischen diesen beiden Bereichen. Nur in der gesamtheitlichen Berücksichtigung der einzelnen Komponenten und ihrer verschiedenen Facetten können wir eine hochwertige Design-Lösung entwickeln, mit der sich unser Kunde identifizieren kann und die im gleichen Maße unserem Anspruch als Designer gerecht wird.
Achtsamkeit ist für uns aber auch, uns in regelmäßigen Abständen als Team aus dem Tagesgeschäft zurück zu ziehen und in eigenen Workshops unabhängige Design-Lösungen zu entwickeln. Hier geht es darum, um die Ecke zu denken, unkonventionelle Wege zu gehen, aber auch in die Positionen und die Denkprozesse eines Kunden einzutauchen. Diese zeitlich begrenzten Workshops machen viel Spaß, fordern uns gleichermaßen in unserem Schaffensprozess heraus, schweißen als Team zusammen und halten die Konzeptionsprozesse im Kopf in Bewegung. Wir verstehen die Zeit als einen achtsamen Umgang mit uns und unserem Team und in manchen Fällen entstehen dadurch schöne Nebenprojekte, die wir auch im Anschluss des jeweiligen Workshops weiterverfolgen.
Für ein gutes Arbeitsklima haben wir im Herbst letzten Jahres die allgemeine Arbeitszeit auf 7 Stunden pro Tag verkürzt
Habt ihr das Gefühl, dass Achtsamkeit in der Kreativbranche generell ein Thema ist – oder gerade dort nicht?
Achtsamkeit ist ein Thema in der Kreativbranche. Allerdings nicht nur hier, es ist ein generelles Thema des Arbeitsmarktes an sich, betrachtet man zum Beispiel den Sektor
sozialer Berufe. In der Kreativbranche sind die Lücken in der Achtsamkeit scheinbar auf allen Seiten vorhanden: Agenturen, in denen viele und unbezahlte Überstunden zum Alltag gehören, Selbstständige, die ihre Leistungen unter Wert verkaufen und Kunden, denen ein Verständnis für Art und Umfang kreativer Schaffensprozesse fehlt. Kreative Berufe haben einen hohen Wert für das Selbstverständnis und die Dynamik einer Gesellschaft und sollten weniger starken preislichen Diskussionen unterliegen. Eine Stärkung des öffentlichen Berufsbildes und des brancheninternen Selbstbewusstseins könnten die Arbeitsbedingungen deutlich verbessern.
Wie sorgt ihr für euer Wohlbefinden am Arbeitsplatz?
Wir achten darauf, dass auf zeitintensivere Projekete auch immer wieder ruhigere Phasen folgen
Das Hauptkriterium für ein gutes Wohlbefinden ist ein gutes Team und ein achtsames Miteinander. Wir legen einen sehr großen Wert auf die sozialen Strukturen in unserer Agentur, verbringen wir doch einen nicht unerheblichen Teil unserer Zeit mit unseren Arbeitskollegen. Ein weiterer Punkt ist die Arbeitsstruktur: Wir achten darauf, dass auf zeitintensivere Projekete auch immer wieder ruhigere Phasen folgen oder nehmen unser Team für eine kurze Zeitspanne bewusst aus dem Alltagsgeschäft raus (die oben erwähnten Workshops). Überspringt man diese Ruhephasen beziehungsweise Pausen, erhöhen sich das Frustrations- und Stresslevel, mittelfristig leiden die Qualität der Arbeit und die Kreativität darunter und langfristig nimmt die Überbeanspruchung Einfluss auf die Gesundheit. Nur wer ausgeglichen und aufnahmefähig ist, nimmt Problemstellungen wahr und findet kreative Lösungen. Für ein gutes Arbeitsklima haben wir im Herbst letzten Jahres die allgemeine Arbeitszeit auf 7 Stunden pro Tag verkürzt. Entgegen weitläufiger Meinungen schaffen wir dadurch nicht weniger Arbeit sondern mehr. Ein Zugeständnis an uns und unser Team, was von jedem einzelnen in seiner Arbeitsleistung an die Agentur zurückgegeben wird.
Nur wer ausgeglichen und aufnahmefähig ist, nimmt Problemstellungen wahr und findet kreative Lösungen
Wie wirkt sich Achtsamkeit im Designprozess aus?
Achtsamkeit zieht sich durch den gesamten Designprozess. Sie beginnt beim ersten Kundengespräch und endet bei der Übergabe der finalen Daten. Begegnet man seinen Kunden und ihren Projekten von Beginn an mit Achtsamkeit, werden viele Fragen vorab geklärt und Probleme vermieden, die sich ansonsten während des Gestaltungsprozesses einstellen. Für den Gestaltungsprozess gilt: Es ist gut, flexibel zu bleiben und offen für neue Lösungen und Impulse zu sein.
Was meint ihr: Kann mehr Achtsamkeit zu mehr Bewusstsein für dieVerantwortung von Designern führen – und damit zu besseren Lösungen für Umwelt, Wohlbefinden der Nutzer und die Gesellschaft?
Ja. Hier liegt die Verantwortung vor allem in der Kreativbranche selbst. Es ist die Aufgabe des Designers, seinen Kunden für die inhaltlichen, funktionalen und ethischen Ansprüche, die ein Design neben den ästhetischen Aspekten erfüllen kann und sollte, zu sensibilisieren. Dem kann vorgebeugt werden, indem bereits in der Ausbildung ästhetische Bildung in Zusammenhang mit nachhaltiger Produktion und Ressourcenplanung auf die Agenda gesetzt wird. Zu diesem Thema lohnt sich zum Beispiel die Auseinandersetzung mit Vereinigungen wie dem Deutschen Werkbund, der bereits 1907 den Fokus auf solche Gesichtspunkte in einem interdisziplinären Austausch gelegt hat. Es sind also Themen und Debatten, mit denen wir uns gesellschaftlich bereits länger befassen.
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