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Siebert-Kolumne: Zauber der Verschwörung

Unser Kolumnist Jürgen Siebert plädiert für Gespräch statt Ausgrenzung – auch wenn’s schwerfällt

Jürgen siebert, Sieberts FundstückeBild: Norman Posselt

Krisenzeiten sind Verschwörungszeiten. Desinformationen haben immer dann große Resonanz, wenn traditionelle Deutungs­muster nicht mehr greifen. Politische Konflikte, ideologische Um­wälzungen, Naturkatastrophen und die aktuelle Pande­mie sind der Boden, auf dem Verschwörungstheorien gedeihen.
Das Nervige in Zeiten von Corona: Auf einmal fühlen sich ­alle gleich stark angesprochen und gehen gemeinsam auf die Straße . . . die Verstörten, die Aufklärer, Hexenjäger und fehlgesteuerte Meinungsführer, vom Musiker bis zum veganen Koch. Ihr öffentliches Abrakadabra weckt das Interesse der Medien. Deren Berichte mobilisieren gutgläubige Mitläufer, wovon sich wiederum politische Extremisten angesprochen fühlen, die gleich mitmarschieren. Gibt es irgendetwas, das diese unterschiedlichen Menschen vereint? Ja: Das Misstrauen gegenüber jeglicher Autorität und – im schlimmsten Fall – der Realität.

Als Wissenschaftler (Physik) bin ich mir sehr wohl darüber im Klaren, dass es keine absolute Wahrheit gibt. Doch Modelle, Wahrscheinlichkeiten und statistische Analysen bringen uns ziemlich dicht dran. Das wusste auch schon Goethes »Faust«: Die Wahrheit sei entweder göttlich oder teuflisch. Für den Menschen sei sie unerreichbar, was ihn zu einem »strebenden Bemühen« verdamme – erreichen werden wir die Wahrheit nie.

Andererseits sagt mir mein kindliches Ich, dass die Beschäfti­gung mit einer Verschwörung – nennen wir sie ruhig »Märchen« – einen hohen Unterhaltungswert hat. »Die Amerikaner waren niemals auf dem Mond . . .« ist eine Steilvorlage für die eigene Fantasie, für Recherchen, die Kombination von Indizien und das Aufpusten einer Gedankenblase. Das macht oft mehr Spaß, als sich den realen Problemen zu Hause oder im Job zu stellen. Deren Lösung ist mit Arbeit verbunden, während die Kons­truk­tion einer Verschwörung die Fantasie zum Blühen bringt.

Ich frage mich daher, ob wir Kreativen eventuell ein leichtes Opfer für Komplotte sind. Ja, gehören Verschwörungstheorien nicht vielleicht schon längst zu unserem Alltag? Wie ist ein Statement der Art einzuordnen: Auf meinem Rechner keine ­Microsoft-Produkte? Oder: Die Creative Cloud macht uns alle abhängig? Stehen die Ulmer Schule oder das Bauhaus für freies Design oder waren es im Kern ideologische Institutionen? Ist der Glaube an Gestaltungsraster nicht eher eine Gängelung als eine Methode der Strukturierung?

Die Digitalisierung erleichtert unser aller Leben und Arbeit. Doch an jeder Ecke lauern Gefahren. SIE sind immer dabei, die Kontrolle über unser Leben zu übernehmen. IHRE Server kennen uns besser als wir selbst. SIE wissen, was wir kaufen möchten. SIE leiten Besucher auf unsere Seiten oder halten sie fern. IHRE Webcams beobachten uns, IHRE Funkmasten orten uns. SIE wissen, wo und wann wir Geld ausgeben. SIE überschwemmen uns mit Fake News, um unser kritisches Denken kurzzuschließen.

Gerade im Digitalen scheint der Grat zwischen Dichtung und Wahrheit ein ganz schmaler zu sein. Ob wir wollen oder nicht: Wir sind Teil dieses Kräftefelds. Und wir müssen uns der Debatte stellen. Das Abgrenzen ist keine Lösung, sondern verhärtet die Fronten. Wir müssen Personen mit Verschwörungsglauben auf Augenhöhe gegenübertreten, anstatt sie herablassend zu behan­deln. Analytisches Denken hilft weiter als das Bombardieren mit Fakten. Wir müssen die innere Logik einer Verschwörungstheorie aufdröseln: die Quelle auftun, Widersprüche bloßlegen, die zugrunde liegenden politischen Intentionen sichtbar machen. Es gilt zu ergründen, was Verschwörungstheorien für so viele Menschen attraktiv macht und welchen Nutzen sie daraus ziehen.

Wir Kommunikationsexperten sollten versuchen, unsere Medienkompetenz mit Anhängern von Verschwörungstheorien zu teilen, anstatt sie auszugrenzen.

Wenn wir Kommunikationsexperten eines können, dann ist es der Umgang mit Informationen und Medien. Wir haben Medienkompetenz, und die sollten wir anderen Menschen nicht vorenthalten. Der alltägliche Umgang mit dem Internet und den sozialen Medien ist für Kommunikationslaien ein Minenfeld. Wir sollten ihnen beim Umgang mit Fake News, Gerüchten oder unterschwelliger Hetze helfen, ihre Widerspruchstoleranz stärken, anstatt sie auszugrenzen.

Kommentare zu diesem Artikel

  1. Heute Morgen haben wir uns mit Kollegen genau zu diesem Thema unterhalten. Statt ihn auszugrenzen und sich lustig über ihn zu machen, sollten wir DEN MENSCHEN, der hinter einer Idee oder eines Gedankens steht ernst nehmen – mag der Gedanke für andere Ohren auch noch so absurd klingen. Alles andere führt zu noch mehr Spaltung der Gesellschaft und zur Verhärtung von Positionen. Mich stört, dass es nicht wirklich zu einer ernsthaften inhaltlichen Auseinandersetzung kommt. „Verschwörungstheoretiker“ wird inzwischen auch als Kampfbegriff genutzt um Kritik an einer gängigen Praxis/Handlungsweise bereits im Vorfeld einer Debatte auszumerzen, so dass es gar nicht erst zu einer Debatte kommt.
    Herr Gates mag kein Teufel sein, wie ihn seine Gegner und Kritiker darstellen. Er ist aber ganz sicher auch kein heiliger Samariter, wie ihn die meisten Medien beharrend darzustellen versuchen.
    Die Verstrickung zwischen der lobbystarken Pharma-Industrie und Gesundheits-Institutionen darf und muss kritisiert werden dürfen ohne dabei als „irrer Verschwörungstheoretiker“ abgestempelt zu werden. Genau das passiert aber gegenwärtig. Es findet keine inhaltliche Debatte statt. Stattdessen scheint man sich auf ein „entweder-oder“, „schwarz oder weiß“ festgelegt zu haben. Wo bleiben die vielen Graustufen?
    Niemand hat die „Wahrheit“ gepachtet. Denn die „Wahrheit“ liegt allzu oft irgendwo zwischen zwei Positionen. Insofern stören mich die Arroganz und der Absolutheitsanspruch, mit der diese Themen in den meisten Medien behandelt werden. Ein zeitgenössischer Astro-Physiker sagte mal in einem Interview folgendes: “Ich habe gelernt, niemals “nie” zu sagen”. Diese Demut vermisse ich all zu oft.
    Deshalb feiere ich Ihren Kommentar, als den einzigen differenzierten Beitrag zum Umgang mit Verschwörungen und Verschwörungstheorien, den ich in letzter Zeit gelesen habe. Danke.

    Ugur Sari

  2. Und wer weiß, vielleicht sind am Ende gerade diejenigen die wahren Verschwörungstheoretiker, die über Verschwörungstheoretiker Theorien schreiben 😉

  3. Interessante Ansicht, aber in dem Moment, in dem in Frage gestellt wurde, dass die Mitarbeiter der großen Internetkonzerne uns ausspionieren, habe ich aufgehört zu lesen.

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