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Siebert-Kolumne: Falsche Ausgewogenheit

Journalismus sollte offensichtlichen Außenseiterthesen mit Skepsis begegnen, und auch Kreative und Kommunikationsprofis sollten sich gegen False Balance absichern, findet unser Kolumnist Jürgen Siebert.

Sieberts Betrachtungen 03.2022 False Balance
© Karin Kraemer, www.karin-kraemer.net | www.instagram.com/karin__kraemer

Folgt man aktuell den Medien, entsteht der Eindruck, als lehne sich die halbe Nation gegen die Coronamaßnahmen und Impf­pflicht auf. In Thüringen demonstrierten am ersten Januarmontag rund 17 000 Menschen dagegen. Das ist eine große Zahl. Viel größer war an jenem Tag die Zahl der dreimal Geimpften in diesem Bundesland, nämlich 740 000 Personen . . . 43-mal größer, wie eine Infografik in der ARD-Sendung »Hart aber fair« zeigte. Der Moderator Frank Plasberg fragte sich daher selbstkritisch: »Warum überrascht uns dieses Ungleichgewicht …, sind das die Medien, haben wir da wieder zu lange drüber geredet?«

Fachleute nennen diese Art medialer Verzerrung, also die Überbetonung einer Außenseitermeinung, »False Balance«, also falsche Ausgewogenheit. Sie entsteht, wenn einer Konsensmeinung oder glasklaren Tatsache eine Außenseitermeinung als gleichwer­tig gegenübergestellt wird, sei es zur Steigerung der Auflage, um Zunder in einen Fernsehtalk zu bringen oder aus wirtschaftlichem Interesse: Rauchen ist ungesund, aber …

Journalistinnen und Journalisten begründen das meist mit Ausgewogenheit. Sie haben gelernt, dass es in einer pluralistischen Gesellschaft nur selten die einzig wahre Position gibt. Das ist richtig bei Themen aus Politik, Wirtschaft oder Kultur, wo un­ter­schiedliche Meinungen miteinander ringen. Strebt eine Be­richt­­erstattung maximale Neutralität an, dann vergleicht und be­wertet sie die verschiedenen Stimmen.

Bei wissenschaftlichen Fakten macht diese Vorgehensweise keinen Sinn. Wenn die überwältigende Mehrheit von Forscher:in­nen einen Kenntnisstand teilt, gilt dieser als gesicherter Sachver­halt. Er ist das Ergebnis eines Peer-Review-Prozesses. Danach haben Meinungen, die evidenzbasierten Erkenntnissen widerspre­chen, keine Chance. Die Erde ist rund, Punkt. Wer das verneint, ignoriert 300 Jahre Aufklärung und macht sich lächerlich.

Daher sollte der Journalismus offensichtlichen Außenseiterthesen mit großer Skepsis begegnen. Überall lauern Advokatinnen und Advokaten des Zweifels, die ein Interesse daran haben, Misstrauen zu säen, um Personen, Parteien oder den Staat zu de­stabilisieren. »Eine Bevölkerung, die nichts mehr glaubt, glaubt am Ende alles, und zwar demjenigen, der am lautesten brüllt«, sagte Claus Kleber 2018 in seiner Reportage über die Methoden des damaligen US-Präsidenten Donald Trump.

Auch Kreative und Kommunikationsprofis sollten sich gegen False Balance absichern. Hier ein paar Empfehlungen:

1. Fakten und Werte streng trennen. Bei »Faktenschlach­ten« geht es oft gar nicht um die nackten Zahlen, sondern um die versteckten Wertehaltungen dahinter.

2. Infografiken einsetzen. In einer emotionalen Diskussion kann ein plausibles Chart zum richtigen Moment die Kontrahent:innen erden.

3. Keine Effekthascherei. Emotionalisieren ist gut, aber nicht künstlich aufregen. Wir müssen lernen, auch die womöglich langweiligere Wahrheit spannend zu präsentieren.

4. Kluges Herunterbrechen von Informationen, inklusive der Unterscheidung, was relevant für die Diskussion ist. Nicht willfährig der eigenen Story nachjagen.

5. Paradoxe Diskussionsebenen auseinanderhalten. Man kann durchaus über die Existenz von Corona diskutieren, aber bitte nicht im Kontext der Frage »Wie schützen wir uns am besten vor dem Virus?«.

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