Alle vier Wochen finden in Hamburg die Creative Mornings statt. Das Oktober-Motto war »Pioniere« und zu Gast die Gründerinnen von femtastics, dem digitalen Magazin für Girlpower. Johannes Erler fasst zusammen.
Der Superheld meiner Kindheit hieß Thor Heyerdahl. Mit einem Floß aus Balsaholz, der legendären Kon-Tiki, segelte der Norweger durch den Pazifik. Das Buch zur Expedition las ich dreimal am Stück. Thor Heyerdahl war megamutig, megaschlau und sah aus, wie ein Haudegen auszusehen hatte. Er war ein echter Pionier – um damit gleich mal die immense Fallhöhe dieses Begriffs festzuschreiben.
Spätere Pioniere in meinem Leben hießen Ridley Scott, Franz Klammer und Paddy McAloon. Und immer leisteten sie Übermenschliches. Dass ein Designer je so groß sein könnte, hielt ich lange Zeit für ausgeschlossen, doch dann durfte ich Neville Brody die Hand schütteln und bekam Herzrasen – bei mir bis heute das untrügliche Indiz für das ganz Große.
Die fabelhaften femtastics, die sich dazu aufgemacht haben, Netzjournalismus neu zu denken, sind zu clever, um sich den Stempel Pionier selbst aufzudrücken. Vielmehr fragen sie zu Beginn ihres Vortrags, ob das wohl hinhaut mit diesem Etikett. Tatsächlich bringen sie viele der Eigenschaften mit, die Pioniere ausmachen: Ideen, Neugier, Mut, Chuzpe – und einen langen Atem.
Den braucht man. Denn Pionierleistungen müssen sich bewähren. Und meist werden sie zunächst belächelt oder beschimpft. Drei Beispiele, die schon eine Weile zurückliegen, aber erst in der Retrospektive ihre volle Kraft entfalten.
Der Legende nach drohte Erik Spiekermann einst, Bomben zu werfen, als ihm die Deutsche Post nicht mehr folgen mochte. Stattdessen zog er sich aus dem Auftrag zurück und brachte zumindest teilweise zu Ende, was die Post nicht begriffen hatte. Dabei war der Vorschlag simpel: Das gesamte Formularwesen sollte auf Computer umgestellt und dafür eine digitale Schrift entwickelt werden. Heute ein ziemlich normaler Job. 1985 jedoch konnte kaum jemand das Wort »digital« buchstabieren. Die Schrift, die auf diese Weise abfiel, heißt übrigens Meta.
Pionier ist man nicht für den Moment, Pionier ist man für immer.
Richtig Herzklopfen hatte ich, als 1999 die erste »brand eins« erschien. Was sich Mike Meiré ausgedacht hatte, kannte ich aus Reclam-Heften oder Wissenschaftsbüchern. Doch »brand eins« sollte ein Wirtschaftsmagazin sein. Die Häme folgte auf dem Fuß. Doch Meiré hatte ein Genre begründet, das hundertfach kopiert wurde, ohne das Original bis heute zu erreichen – weil der inhaltliche Ansatz, »Wirtschaft nackt zu machen«, sich nur einmal auf Gestaltung übertragen ließ. Und auch das ist Pionierleistung: Es kann nur eine geben. Was danach kommt, ist Abklatsch.
Und 2006 entwickelte ich eine Sonntagsausgabe für die »Süddeutsche Zeitung«, und mit der Gestaltung der Jugendbeilage wurde Mirko Borsche beauftragt, damals Artdirektor des »SZ«-Magazins: Was er ablieferte, fanden alle ziemlich merkwürdig. Neulich dann hielt ich das Ding mal wieder in Händen – und bekam Herzrasen. Denn Borsche hatte einen Stil vorweggenommen, der heute Mainstream ist. Mit Fotografie aus dem Handy und einer Typografie, die das organisierte Zeitungsraster dekonstruierte. Gedruckte Social Media, als es dieses Wort noch gar nicht gab. Weitsichtig, clever – und leider nie erschienen, denn die Sonntagszeitung starb in den Wirren einer Verlagsübernahme.
Der große Thor Heyerdahl ist bis zu seinem Tod Pionier geblieben. Solange er konnte, bereiste er die Weltmeere oder wühlte in der Erde, neugierig, abenteuerlustig und ziemlich schräg. Keine schlechten Voraussetzungen für wahren Pioniergeist. Die großen Spiekermann, Meiré und Borsche marschieren genau so bis heute voran. Spiekermann vermählt gerade Digitalschrift und Buchdruck, Meiré forscht auf der Grenze zur Kunst, und Borsche ist der spannendste Artdirektor dieser Tage. Pionier ist man nicht für den Moment, Pionier ist man für immer.
Mal schauen, was aus den vielversprechenden Femtastics wird. Den Leitsatz Nr. 1 des Pioniers haben sie auf jeden Fall schon mal begriffen: »Habt keine Angst vor der Angst!«
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Johannes Erler ist Partner des Designbüros ErlerSkibbeTönsmann, das die Creative Mornings im Hamburger designxport veranstaltet, und Mitbegründer des Designkollektivs Süpergrüp. Zu den anderen Beiträgen aus »Erlers Thema« geht es hier.
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