
»Die Designlehre muss sich radikal ändern«
Im Auftrag der iF Design Foundation führte René Spitz eine internationale Untersuchung der Designlehre durch – mit teils ernüchternden Ergebnissen
Welche konkreten Erkenntnisse haben sich für die Designlehre ergeben? Was müssen die Studierenden heute lernen?
Im Studium werden viele Dinge gelehrt, die im 20. Jahrhundert die Grundlage dafür bildeten, um mit Design Geld zu verdienen. Das hat sich aber sehr stark verändert. Ich kann mir mittels Tutorials jederzeit alle möglichen Techniken und Tools situativ aneignen. Alles, was heute kostenlos im Internet verfügbar ist, sollte radikal aus der Lehre gestrichen werden. Die Lehrinhalte können ohnehin gar nicht schnell genug aktualisiert werden, um mit der Realität mitzuhalten.
Aber: Tutorials helfen, ein konkretes Problem zu lösen. Was sie nicht können, ist, den großen Rahmen zu vermitteln, also gesellschaftliche, politische, ökonomische, ökologische, ethische und technische Zusammenhänge, in denen Design entsteht. Dieses Verständnis entwickelt man nur im Austausch mit Lehrenden. Die Lehre muss also diesen Rahmen vermitteln, auf dem man dann aufbauen und sich spezialisieren kann. So wurde in allen Hearings gefordert, verstärkt kulturwissenschaftliches Arbeiten ins Designstudium zu integrieren, also Recherchieren, Reflektieren und Schreiben.
Und was ist mit gestalterischen Grundlagen?
Hier gab es unterschiedliche Meinungen. Die einen sagen, man muss sie an der Hochschule vermitteln – auch um Begabungen zu wecken und zu fördern. Die anderen sagen: Die setzen wir voraus. Wieder andere sagen: Die sind gar nicht mehr nötig, weil man die Umsetzung auslagern kann. Jede Hochschule muss für sich die Entscheidung treffen, ob Techniken wie Zeichnen weiterhin Bestandteil ihres Studienangebots sein sollen. An den meisten chinesischen Universitäten können die Studierenden unglaublich gut zeichnen – aber nicht, weil sie es dort lernen, sondern weil sie es sich selbst aneignen. Wobei Zeichnen immer nur als Mittel zum Zweck verstanden werden darf, als eine Technik der Formgebung.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ästhetik ist weiterhin Bestandteil von Design, aber eben nicht mehr der Kern.
Was unterscheidet Design dann noch von Management, das Design Thinking umfasst, oder von Sozialwissenschaften?
Die Abgrenzung gegenüber anderen Disziplinen liegt vor allem in der Fähigkeit, zu visionieren und zu visualisieren. Also darin, kreative neue Ideen zu generieren und sie in Prototypen anschaulich zu machen. Für Letzteres gibt es inzwischen viele Tools. Ich kann also visionieren, ohne handwerklich in der Lage sein zu müssen, die Ideen zu visualisieren.
Wie lehrt man denn »Visionieren«?
Mit einer Mischung aus Geistes- und Naturwissenschaften, Methoden, Techniken – und indem man Neugier weckt. Studierende müssen lernen, sich umfassend zu informieren, in ein Reizklima mit anderen Disziplinen zu treten, kritisch zu denken und ihre Gedanken auszudrücken – am besten anhand von konkreten Projekten. Hierzu gibt es unterschiedliche Einstellungen – besonders in Europa ist man traditionell eher skeptisch gegenüber der Industrie. Ich finde, dass man im Studium ausschließlich mit echten Auftraggeber:innen an realen Projekten arbeiten sollte.
Aber sollte die Hochschule nicht ein Ort sein, an dem man frei experimentieren und gestalten kann? Die Realität kommt doch schon früh genug!
Dieses Argument überzeugt mich nicht. Ohne Restriktionen bewegen wir uns im Bereich der Kunst. Im Design haben wir es immer mit Briefings, knappen Ressourcen und anderen Widersprüchen zu tun. Kreative Freiheit im Design entsteht im Rahmen dieser Restriktionen. Wir entledigen uns nie der Zwänge, sondern innerhalb der Zwänge entsteht das Spiel. Aus der Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Interessen kann man im Studium viel lernen. Außerdem verändern sich Industrie und Wirtschaft ja auch und werden immer offener für innovative Ideen.
Sollten Designabsolvent:innen coden können?
Ich glaube, dass sie sich am besten noch vor dem Studium nicht nur gestalterische Grundlagen aneignen sollten, sondern auch Coding- und KI-Kenntnisse. Nicht um Programmierer:innen zu werden, sondern um die Zusammenhänge zu verstehen. Programmieren ist die Sprache des 21. Jahrhunderts. Wenn man sie beherrscht, stehen einem alle Türen offen. Viele Arbeitsschritte im Design, die aktuell noch von Menschen durchgeführt werden, erledigen zukünftig intelligente Technologien und Systeme. Wir brauchen niemanden mehr, der Visitenkarten und Websites gestaltet. Wir brauchen Leute, die an der Schnittstelle von Design und Programmierung arbeiten – in Berufen, für die wir heute noch gar keine Namen haben.
Studierende sollen schon vor dem Studium zeichnen und programmieren können? Ist das nicht ein bisschen viel verlangt?
Ich bin dafür, ein Propädeutikum einzuführen, ein einjähriges Vorstudium, das technische und gestalterische Fähigkeiten vermittelt. Die Bologna-Reform hat leider viel kaputt gemacht. Das alte Diplomsystem war flexibler, sodass man sich im Laufe des Studiums eine Spezialisierung aneignen konnte. Dafür ist im Bachelorstudium keine Zeit mehr. Daher sollte man den Erwerb der Grundkenntnisse vorlagern.
Wie sähe nach Ihrer Meinung ein ideales Designstudium aus?
Es wäre vom ersten Semester an ein projektbasiertes Studium mit ausschließlich externen Auftraggeber:innen, kleinen und großen Unternehmen, NGOs, Start-ups, Vereinen et cetera. Alle Facetten der gestalterischen Praxis würden projektbezogen erlernt statt aufgeteilt nach Fächern und Semestern. Es gäbe drei große Schwerpunkte: Technik, Geisteswissenschaften, Kommunikation. In der Technik würde Design eng mit Ingenieurswissenschaften und Informatik kooperieren, der geisteswissenschaftliche Schwerpunkt umfasst Themen wie Feldforschung und Ethik, und in der Kommunikation geht es darum, Designer:innen für den internationalen, interdisziplinären und interkulturellen Austausch fit zu machen. Zudem würde ich auf eine kooperative Lehre setzen, in der zwischen acht und zwölf Lehrende ein gemeinsames Thema besetzen, und zwar aus verschiedenen Blickwinkeln heraus – technisch, gestalterisch, wirtschaftlich, juristisch, politisch und so weiter. Das wäre mein ideales Designstudium. Bisher konnte ich noch keinen Hochschulpräsidenten davon überzeugen – aber vielleicht gelingt mir das ja noch.
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Das Interview mit Prof. René Spitz ist in PAGE 08.2021 erschienen. Um den kompletten Artikel mit allen Interview und Expertenmeinungen im Print-Layout zu lesen, können Sie sich die Ausgabe hier herunterladen: