Warum man das Silicon Valley (und die User in den sozialen Netzen) nicht unterschätzen sollte, erklärt unser Kolumnist Jürgen Siebert
In den 1970er Jahren entwickelte sich das Silicon Valley zur Wiege des Fortschritts, das Wohl der Menschheit fest im Blick. Philanthropische Gründer und Hippies definierten ihr Wirken als Gegenmodell zur klassischen Wirtschaft. Parolen wie »Think different!« und »The Computer for the rest of us« gaben die Richtung vor. Heute rangieren Apple, Alphabet und Facebook unter den Top 10 der wertvollsten Unternehmen weltweit, und der Wind bläst ihnen gerade heftig ins Gesicht. »Spiegel«-Technikredakteur Christian Wüst brachte sein Urteil vor zwei Wochen auf die Formel: »Das Silicon Valley hat bislang nur läppischen Fortschritt gebracht.« Seine Begründung: Raubbau an natürlichen Ressourcen, Google kriegt kein Roboterauto hin, und das Netz ist der größte Stromfresser.
Was ist Fortschritt? Sicherlich Erfindungen, die uns Menschen dienen. Schutzimpfungen, Elektrifizierung, Mobilität, das Telefon und die moderne Landwirtschaft. Jeder dieser Fortschritte hat auch Nebenwirkungen, sodass wir selbst 200 Jahre alte Segnungen kontrovers diskutieren. Zum Beispiel das Impfen. Oder den Kunststoff. Beurteilt man die Leistungen des Silicon Valley (und anderer Tech-Standorte) vor dem Hintergrund, dass wir im Informationszeitalter leben, wage ich die Behauptung: Die Fortschritte kamen noch nie so schnell, waren noch nie so demokratisch und noch nie so wirkungsvoll wie in den letzten zehn Jahren.
Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung hat Zugang zum Internet und damit zum Wissen der Menschheit, seien es Nachrichten, historische Fakten (Wikipedia), Fotos und Gedanken von Freunden oder Kulturprodukte wie Filme, Musik und Podcasts. Wir alle tragen dieses Wissen und den Medienzugang in unserer Tasche, in einem Gerät, das Kamera, Schreibmaschine, TV/Radio, Bücherregal, Fahrkartenautomat, Brieftasche und Hunderte weiterer Funktionen in sich vereint. Und Designer entwickeln und gestalten seit Jahren mit und für diese Geräte. Als Teil der Kultur- und Kreativwirtschaft, die laut BMWi der zweitgrößte Wirtschaftszweig im Land ist, nach der Automobilindustrie. Die vergangenen zehn Jahre als »läppischen Fortschritt« zu bezeichnen geht an der Realität vorbei.
Im »Spiegel«-Kommentar heißt es außerdem, dass es nicht auf die Menge der Informationen ankomme, die ein Mensch empfängt, sondern auf die Fähigkeit, sie zu bewerten. Und daran mangele es den Usern im Netz, den »Konsumtölpeln«. Auf identischem Arroganzlevel bewegt sich Horst Seehofer, der seinen bevorzugten Legislativstil so beschreibt: »Man muss Gesetze komplizierter machen«, dann gäbe es auch keine Kritik in den Social Media. Dass solche Zitate heute nicht mehr ungestraft in Hinterzimmern versanden, sondern ans Tageslicht gezerrt und mit einem Shitstorm quittiert werden, verdanken wir den Segnungen aus dem Silicon Valley. Und den »Konsumtölpeln«.
Selbstverständlich ist ein Shitstorm keine Lösung, aber vielleicht eine evolutionäre Zwischenstufe. Eine Lösung wäre, dass sich Politiker wieder auf gesellschaftliche Aufgaben und politische Inhalte konzentrierten und Journalisten ihre Rolle als vierte Macht im Staat wahrnähmen, statt weiter überholten Geschäftsmodellen nachzutrauern. Und beide Gruppen, plus die Unternehmen, müssten mit ihren Wählern, Lesern und Konsumenten genau dort in den Dialog treten, wo sie sich bewegen und bisweilen ihren Unmut äußern.
Facebook, YouTube oder Twitter bedrohen genauso wenig die Demokratie wie Flugblätter oder Bücher, in denen auch viel Unsinn veröffentlicht wird. Doch im Digitalen reden auf einmal viel mehr Menschen mit, auch solche, denen nie gezeigt wurde, wie man Fehlinformationen und Manipulationen entlarvt oder eine Gegenmeinung äußert. Hier ist die Politik gefordert. Und die Schule. Sie müssen die neuen Kanäle bedienen, mitdiskutieren und mitstreiten.
Die Fortschritte waren noch nie so demokratisch und noch nie so wirkungsvoll wie in den letzten zehn Jahren.