Mit »Scheiblettenkind« illustriert Eva Müller auf bedeutende Weise, wie lebensbestimmend es ist, in Armut aufzuwachsen – und dann auch noch Künstlerin zu werden.
Eva Müllers Graphic Novel »Scheiblettenkind« beginnt mit der gezeichneten Autorin als Protagonistin und ihrer Einordnung der Geschichte in das Autofiktionale. Das Dargestellte ist also leicht abgewandelt dem Leben der Zeichnerin entnommen. Sie erzählt von den prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen ihrer Großeltern und Eltern, kontextualisiert pointiert ihr Aufwachsen im Deutschland der 1980er-Jahre.
Was auch zu Beginn des Buchs – erschienen Ende 2022 im Suhrkamp Verlag – steht, ist ein Zitat eines Familienmitglieds zur erlebten Abwertung des Künstler:innenberufs: »Also die meisten Bilder, die ihr so macht, könnte dein fünfjähriger Cousin malen.« Eva Müller greift in Scheiblettenkind explizit die nagende und nervende Selbst- wie Fremdkritik am künstlerischen Schaffen auf. Die Schlange wird zur ständigen Begleiterin der Protagonistin und steht hier nicht nur für persönliche Probleme, sondern auch für strukturelle. Sie ist die Stimme der Scham, der Selbstzweifel, der Diskriminierung Armutsbetroffener gegenüber.
Nach dem Studium der Sozialarbeit in Koblenz studierte Eva Müller (Jahrgang 1981) Illustration an der HAW Hamburg – und startete somit noch einmal bewusst ein Leben weit weg von dem beengenden im Südwesten Deutschlands, seit 2016 auch als Freelancerin sowie vielfach prämiert.
Unter anderem ehrte das Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt Müller für Scheiblettenkind, die Jurybegründung spricht für sich: »Die größte Kraft entfaltet die Geschichte dort, wo es körperlich wird: Das anatomisch illustrierte Gebiss als Erzählung sozialer Verhältnisse, eine Verknüpfung von gesellschaftlichem Blick und physischen Bildern.«
Müller arbeitete für Scheiblettenkind mit schwarzem Buntstift auf DIN-A3-Papier. Nach dem Scannen passte sie lediglich die Kontraste in Photoshop an. Ihr Illustrationsstil ist dabei »zeitlos, strukturverliebt und pur«, wie sie es selbst treffend beschreibt.
Mit dem Stift gegen die Existenzängste
Die Graphic Novel entstand innerhalb von drei Jahren. »Das ist sehr schnell und ging nur, weil ich sehr viele Artist Residencys hatte und es die Corona-Stipendien und Überbrückungshilfen für Künstler:innen gab«, so Eva Müller. In diesem Tempo sei so ein Projekt in Zukunft nicht mehr möglich und ihr Leben weiterhin durch einen Verdienst nahe dem Existenzminimum geprägt. Erschwerte Residency-Aufnahmebedingungen als Künstler:in mit Kind (sie ist selbst kürzlich Mutter geworden), wegfallende Hilfen und generell zu wenig Stipendien für Comiczeichner:innen sieht sie als Gründe. Gerade auch wegen der mangelnden Förderstrukturen, engagiert sich Müller unter anderem in der 2021 gegründeten Comic Gewerkschaft.
Mit Scheiblettenkind lenkt die Künstlerin und Autorin den sich nicht abwendenden Blick auf zu lange schon existierende und weiterhin um sich greifende strukturelle Probleme – ihre Thematisierung ist ein wichtiger Beitrag zur Armutsbekämpfung.