PAGE online

Was man von erfolgreichen D2C-Brands lernen kann

Community-Building, Storytelling, Purpose: Erfolgreiche Marken, egal, ob klein oder groß, stehen in engem Austausch mit ihren Kundin­nen und Kunden. Direct-to-Consumer heißt dieser Trend, der für Kreative jede Menge Chancen und Heraus­forderungen bereithält. Wir beleuchten die neue Rolle der Agenturen und stellen gelungene Konzepte und Strategien vor

Kreditwürdig: Rund 60 Prozent der Millennials und Gen-Z-Angehörigen in England wird eine Kreditkarte verweigert.Das will der britische Finanzdienst­leister Keebo ändern. Mit einer Kreditkarte, die sich vor allem an junge Freiberufler:innen und Kreative richtet – und einem coolen Illustrative Branding des Designers Ben James Wood.

Es erinnert ein wenig an die Geschichte von David und Goliath: Kleine Marken, die oft nur ein einziges Produkt anbieten, erobern den Markt. Direct Brands nennt man sie, nicht nur, weil sie ohne Zwischenhändler auskommen, sondern weil sie so direkt an ihrer Community sind, mit ihr in regem Austausch stehen. Oft sind es Herzensprojekte – das merkt man nicht nur den Produkten an, sondern auch dem Storytelling und der sorgfältigen Gestaltung des Brandings und Packagings. Die meisten dieser D2C-Marken ver­kaufen vor allem über den eigenen Onlineshop, man­che zusätzlich über Kooperationspartner oder eigene Läden im stationären Handel. Dabei sind Direct Brands längst keine Exoten mehr, die Plattform Direct-Brands.de listet über alle Branchen hinweg knapp 3000 auf, Tendenz steigend.

Reich werden ist nicht das erklärte Ziel dieser New Brands Owners – sie wollen etwas tun, von dem sie überzeugt sind. »Erfolgreiche D2C-Konzep­te fußen auf einem Produkt mit überzeugender Qua­lität, aus dem heraus die Marke aufgebaut wird, einer starken Community und dem bedingungslosen Bekenntnis zur Interaktion«, sagt Benjamin Bunte, Ge­schäfts­füh­rer der Hamburger Agentur pilot (siehe Interview). Damit macht Bunte klar, dass D2C viel mehr ist, als Waren direkt zu verkaufen. Es ist eine Geschäftsphilosophie, die sich an den Kon­sumen­tin­nen und Kon­sumen­ten, ihren individu­ellen Wünschen und Kaufge­wohnheiten orientiert und sie in die Wei­ter­ent­wick­lung des Produkts oder Services einbezieht.

Werteorientierung statt Gewinnmaximierung

Schon seit 2015, als D2C den meisten noch kein Begriff war, gibt es einhorn. Die Marke hat sich mit ihren Produkten – Kondome aus Kautschuk und Perio­denartikel – eine feste Fangemeinde erarbeitet, auch weil nicht Gewinnmaximierung, sondern Fairstaina­bility im Vordergrund steht. 50 Prozent der Erlöse re­investiert einhorn in soziale und nachhaltige Pro­jek­­te. »Wir wollen eine möglichst intensive Beziehung mit unserer Community aufbauen, statt auf schnelle Reichweite zu setzen«, sagt der fürs Marketing verantwortliche Markus Wörner. »Offenheit und Ehrlichkeit sind uns dabei sehr wichtig. Wir trauen uns, zu experimentieren, und lassen die Menschen an unserer Reise teilhaben.«

Wild und bunt: Die schönen Illustrationen von Sandra Bayer tragen wesentlich zur Beliebtheit der Marke einhorn bei.

Von Anfang an waren die Produkte nicht nur über den einhorn-Onlineshop beziehbar, sondern auch im stationären Handel vertreten. Begonnen hat dies mit Bio-, kleineren Lifestyle- oder veganen Läden. Relativ schnell kamen dann die ersten großen Su­per­märk­te und schließlich Drogerien hinzu. Zur Be­liebt­heit tragen die bunten Packagings bei, die Il­lus­t­ra­tionen stammen von Sandra Bayer, die bei dem Unternehmen angestellt war, bevor sie sich 2020 selbstständig machte. »Die Arbeit mit dem einhorn-Designteam bietet viel kreative Freiheit bei einem hohen Qualitätsanspruch und sehr vielfältigen Aufgaben«, so die Designerin. Die Illustrationen sind so divers wie die Fans der Marke, außerdem zeigen sie Haltung, treffen den Zeitgeist und tragen so wesentlich zum Community-Building bei.

D2C-Brands: Gemeinsame Weiterentwicklung

Auf den Verkauf über den Onlineshop beschränkt sich dagegen No Coffee. Die 2020 gegründete Marke bietet nur mit Wasser entkoffeinierten Biokaffee – gut für den Geschmack. »Mit dem Onlinevertrieb haben wir den Raum, die Story von No Coffee zu erklären«, sagt Mitgründer Andreas Kühn. »Unsere teils radika­len Ansätze wären im stationären Handel ohne größere Bekanntheit nur schwer vermittelbar.« Naming, Branding und Packaging entstanden komplett inhouse – für D2C-Brands nicht ungewöhnlich, Herzensprojekte gibt man eben nur ungern aus der Hand. Außerdem verstehe man dadurch besser, wie Kun­d:innen die Marke wahrnähmen. So könne man sie immer weiter schärfen.

Clean und Bold: Schnörkellos und reduziert, mit viel freier Fläche und der Serifenlosen Averta von Kostas Bartsokas gestaltete die D2C-Marke No Coffee ihre Packagings.

Gemeinsam sind einhorn und No Coffee auch der enge Austausch mit der Community und die Nahbarkeit. Der Dialog läuft vor allem über E-Mail und Social Media, er hilft, das Produkt zu verbessern und die Bekanntheit zu steigern. »Wir versuchen, Mehrwer­te zu generieren, indem wir etwa die passende Playlist für deinen nächsten Yoga Retreat auf Spotify pflegen, und beziehen unsere Community auch bei der Produktentwicklung aktiv mit ein«, sagt Kühn. Die Kaffeekapseln zum Beispiel nahm die Marke erst auf Wunsch von Kund:innen ins Programm. Anfangs gab es Probleme in der Nutzung bestimmter Kapselmaschinen, und auch der Geschmack gefiel nicht allen. Das No-Coffee-Team reagierte sofort und veränder­te Geschmack und Verpackung.

Auch die Daten, die No Coffee sammelt, fließen zurück ins Produkt. »Kürzlich haben wir das Thema Milchalternativen evaluiert und unsere Com­mu­­nity über mehrere Wochen zu verschiedenen Aspekten befragt«, berichtet Andreas Kühn. »Vollständig teilgenommen haben gut 150 Leute. Damit können wir schon bestimmte Tendenzen absehen, was uns bei der Entscheidung hilft, in welche Richtun­gen wir etwa Partnerschaften ausbauen.«

Vielfalt feiern: In der neuen, von Droga 5 London entwickelten Kampagne »Long Live Fashion – Mode für immer« verneigt sich Vestiaire Collective aus Paris vor seiner ebenso individuellen wie großen Community. Klares Ziel der Marke, die Designer-Secondhand-Mode verkauft: die Fashionbranche in eine nachhaltigere Zukunft zu führen. Per App kann man gebrauchte Luxusstücke kaufen, aber auch verkaufen. Rund 15 Millionen Mitglieder handeln etwa drei Millionen Artikel aus mehr als 80 Ländern. Die neue Kampagne will vor allem die Diversität der Community darstellen. Die supersympathischen Puppen – vom schwedi­schen Regisseur Andreas Nilsson zum Leben erweckt – werden die Beliebtheit von Vestiaire Collective bestimmt noch steigern. Außerdem erinnern sie die Modebranche charmant daran, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen.

Big Brands: Möglichkeiten der Transformation

Neugierig und auch ein bisschen neidisch schauen die großen Marken darauf, was gerade im Bereich D2C passiert. Sie würden sich gern verändern, sind dabei aber zögerlich und deutlich behäbiger als die Kleinen – allerdings nicht alle. Ein Vorreiter ist zwei­fellos Nike. Schon vor Jahren erkannte das Unterneh­men den D2C-Trend, gründete die Abteilung Consumer Direct Offense und stellte die Vertriebsstrate­gie um: Spannende neue Produkte gibt es nur noch in der Nike-App, auf der Website oder in den eigenen Stores – inzwischen auch im Metaverse. Von Amazon will man sich ganz trennen, die Verkäufe über statio­näre Händler fährt Nike immer weiter zurück, was Läden wie etwa Foot Locker in wirtschaftliche Schwierigkeiten bringt. Und die Strategie geht auf, Aktienkurs und Gewinn gingen nach oben, der Anteil der D2C-Umsätze macht inzwischen fast 40 Prozent aus.

Einen radikalen Brand Shift wagte Hermes UK – sogar mit neuem Namen: Evri. Andere wollen erst mal lernen, indem sie kleine D2C-Brands gründen oder eine bereits bestehende inklusive des dort arbeitenden Teams über­nehmen. So gründete Beiersdorf 2021 zunächst die Kosmetiklinie O.W.N. (Only What’s Needed) und stieg kurz darauf bei dem Start-up Routinely für individuell zusammengemix­te Hautpflegeprodukte ein (siehe PAGE 10.21, Seite 80 ff.). Mehrgleisig fährt auch Henkel: Der Konzern kaufte sich bei den D2C-Marken Hello Body, Banana Beauty und Mermaid+Me ein und brachte mit M:ID auch ein eigenes D2C-Produkt auf den Markt – gegen Haarausfall bei Männern. Eine sehr gute Idee ist das Konzept Henkelpre­neure: Mitarbeiter:innen mit in­novativen Ideen können diese vorstellen und – gefallen sie den Chefs – auch umsetzen.

Alternativen anbieten: Ganz dicht dran an seiner Community war Back Market am Earth Day, als das französische Refurbishing-Brand Apples AirDrop-Technik hackte und Besucher:innen einiger Apple Stores auf die dort ausgestellten iPhones die Nachricht übermittelte, dass es einen umwelt­freundlicheren und billigeren Weg gäbe, Technologie zu konsumieren: indem man das gewünschte iPhone runderneuert bei Back Market kauft. Tatsächlich ließ sich wohl der eine oder andere überzeugen. . .

D2C: Eine Frage der Haltung – und des Muts

Die Vorteile von D2C liegen auf der Hand: »Kunden kaufen öfter, sind weniger preissensibel, empfehlen das Produkt ihren Freunden, und man erhält als Unternehmen viel besseres Feedback«, sagt Die­ther Ker­­ner, Kreativchef (CCO) bei fischerAppelt in Hamburg. Dass dennoch viele, vor allem große Unternehmen zögern, sich auf das Abenteuer einzulas­sen, liegt an den großen Veränderungen, die dafür nötig sind: »Es braucht die Bereitschaft, mit der Community in Aus­tausch zu treten, jede einzelne kommunikative Maßnahme wirklich direkt zu tracken, die Wirkung ei­nes Posts auf Facebook etwa spätestens nach einem Tag zu prüfen«, sagt Jonny Böhm, Direc­tor Digital Marketing bei fischerAppelt. D2C ja oder nein sei mehr eine Frage von Haltung und Mut als des Budgets.

Wie es aussehen kann, wenn sich eine Branche traut, mutig von ihrem traditionellen Geschäftsmo­dell abzuweichen, zeigt der Finanzsektor. Hier sprechen Unternehmen vermehrt via Internet potenziel­le Kund:innen direkt an und arbeiten mit frischen Looks und Methoden. Keebo, ein neuer Kredit­dienst­leis­ter aus England zum Beispiel, nutzt Open-Banking-Technologie, bei der Kund:innen ihre Finanzdaten mit Unternehmen wie Keebo teilen. So kann das Unternehmen personalisierte, auf den Einzelnen zugeschnittene Kredite anbieten.

»Die Kunst der Finanzzauberei wurde viel zu lange im Elfenbeinturm gehütet, und nur die Banken hat­ten den Schlüssel«, erklärt Marissa de Miguel, Chief Mar­keting Officer bei Keebo. »Wir stellen finanziel­le Bildung in den Mittelpunkt unserer Marke und ge­stalten es für unsere Kund:innen auch mittels Gamification einfach und unterhaltsam, dazuzulernen.« Die Keebo-Kreditkarte richtet sich vor allem an junge Freiberufler:innen und Kreative, beim Branding ließ sich der britische Designer und Illustrator Ben James Wood von japanischen Comics und der Zine-Kultur inspirieren. Der Webauftritt fällt mit dem riesigen, handgezeichneten Logo im Zusammenspiel mit der Serifenschrift Sectra von Grilli Type ins Auge. Dazu kommt mit America ein weiterer Font der Schweizer Foundry.

Auch Autohersteller, Inbegriff des klassischen Ver­triebs über Händler, gehen neue Wege. Tesla verkauf­te von Anfang an nur direkt über das Internet, Polestar hat ein noch besseres Verkaufsmodell entwickelt. Die Volvo-Tochter arbeitet nach wie vor mit Han­dels­part­nern und Brand Spaces, diese dienen aber lediglich der Inspiration und Information, verkauft wird aus­schließ­lich online – eine wirklich gute Verknüpfung von Online- und Offlinewelt. Die von der schwe­di­schen Agentur Forsman & Bodenfors entwickelte Imagekampagne zeigt nicht ein einziges Auto, sondern spricht die Menschen über Polestars zentrales Thema Nachhaltigkeit an: US-Astronautin Karen Ny­berg beschreibt ihre Emotionen beim Anblick der Erde aus dem Weltall.

Marketing-Toolset: Wie Agenturen im Spiel bleiben

Bedeuten diese Entwicklungen denn nun, dass Krea­tiv­agenturen überflüssig werden? Nein, im Gegenteil: Der D2C-Trend sorgt für neue Aufgaben – vorausgesetzt, die Agenturen sind fit in Sachen E-Commerce und Daten. Entsprechend gründete fischerAppelt kürzlich die neue Unit data core, um Unternehmen dabei zu unterstützen, das richtige Marketing-Toolset auszuwählen, um die ihnen zur Verfügung stehenden Daten auch wirklich nutzen zu können. »Das Besondere an D2C ist ja, dass wir nicht mehr Zielgruppen, sondern einzelne User ansprechen«, so Jonny Böhm. Das heißt, man entwickelt heute Systeme, die alle Kontaktdaten – vom Newsletter-Abon­nement über Programmatic Advertising bis hin zur CRM-Datenbank – verknüpfen und daraus eine individuelle Customer Experience entstehen lassen.

Splitscreen: Jeder Mensch hat mindestens zwei Interessen. Das visua­lisiert die von fischerAppelt gestalte­te App Readly mit zwei Gesichtern, zwei Farbblöcken und zwei Magazintiteln. Durch kluge Auswertung gesammelter Daten entstanden passende Paarungen.

Kreation, Daten und Technologie müssen heutzutage aufeinander abgestimmt sein, um die gewünschte Wir­kung in Form definierter KPIs zu erreichen. Für die App Readly beispielsweise, mit der man rund 9000 Zeitschriften auf dem Handy lesen kann, realisierte fischerAppelt eine datengetriebene Kampagne: »Wichtig war zunächst zu verstehen, dass die meisten Menschen mindestens zwei Interessen haben. Jemand ist vielleicht Computernerd, aber auch Windsurfer«, so Böhm. »Wir haben eine Kreation entwickelt, die wie ein Splitscreen funktioniert. Es sind immer zwei Gesichter, zwei Farbblöcke und zwei Magazintitel zu sehen, etwa die ›Chip‹ neben der ›Surf‹. Die Paarungen entstanden datenbasiert aufgrund der Such- und Downloadzahlen.« Nicht nur für D2C-Brands, sondern generell findet Diether Kerner es spannend und gut, dass »Daten uns heute dabei helfen, die Kreation wirksamer zu gestalten und da­von wegzukommen, die Idee in den Himmel zu loben.« Natürlich sei die kreative Leitidee nach wie vor wichtig, aber sie stehe in ganz enger Verbindung zu den Daten. »Denn in diesen liegt eine riesige Kraftquelle für die Kreation – auch wenn viele von uns ein wenig Angst vor ihnen haben.«

Daten als Kraftquelle: Gegen rechte Musik auf Streamingplattfor­men entwickelte Philipp und Keuntje die fiktive Naziband HetzJaeger. Durch die Nutzung der gleichen Tools und Algorithmen wie bei den Streamingdiensten wurde der Song »Kameraden«, der sich nach kurzer Zeit in ein flammendes Plädoyer gegen rechts verwan­delte, rund 150 000-mal angehört.

Genutzt hat die zur fischerAppelt-Gruppe gehörende Agentur Philipp und Keuntje diese Quelle auch im Fall »HetzJaeger«. Da man auf den Streaming-Plattformen viel zu viel rechte Musik finden kann, erdachten die Kreativen zusammen mit der Initiative Laut gegen Nazis ein trojanisches Pferd. Ein Song der fik­tiven Band HetzJaeger nutzte die gleichen Tools und Algorithmen wie die Streamingdienste, sodass er un­gefähr 150 000-mal angehört wurde. Nach etwa der Hälfte aber kippte der Song, die Band sang: »Wir kicken die Faschisten aus der Playlist raus«, das Video veränderte sich von düster zu poppig, die Musik von Nazirock zu Hip-Hop.

Auch Jung von Matt reagierte auf das sich verändernde Kundenverhalten und gründete die Unit JvM Creators, die kreatives, datenbasiertes Content Marketing anbietet – egal, ob mit NFTs, Influencer:innen oder dem Leporello am Point of Sale. Marketingverantwortliche von D2C-Marken hätten gelernt, Kun­d:innen in der Customer Journey mit Content zu begleiten, erklären die Geschäftsführer von JvM Creators, Robert Andersen und Christoph Weiss. Dabei gehe es nicht nur um das kreativste Storyformat, sondern auch um das richtige Technologie-Set-up, um Produk­tionsprozesse möglichst schlank zu halten.

Für Agenturen, die nicht die Möglichkeit haben, mit eigenen Units auf die neuen Herausforderun­gen zu reagieren, wird es schwer. Nicht umsonst gibt es in der Agenturlandschaft gerade viel Konsolidierung. »Man kommt mit dem Insourcing ja kaum hinterher«, sagt Diether Kerner. »Denken wir an Clubhouse, noch bevor die meisten Agenturen ein Team dafür aufgebaut hatten, war Clubhouse schon wieder tot.« Verschiedene Expertisen unter einem Dach zu vereinen gehe nur mit einem Network oder als große inhabergeführte Agentur, die diverse Einheiten mit unterschiedlichen Schwerpunkten habe. »Die andere Möglichkeit ist, ganz klein zu bleiben und die benötigten Skills von außen zu holen, etwa mit einer Mediaagentur zusammenzuarbeiten. Alles dazwischen wird immer unmöglicher«, sind sich Kerner und Böhm einig.

D2C: Neue Technologien für die Interaktion

Die Agentur Wildbytes aus Madrid und neuerdings auch Berlin hat die Zeichen der Zeit längst erkannt. Nicht zufällig haben die jüngeren Projekte sehr viel Community-Bezug. Und noch etwas ist typisch für Wildbytes: Die Kreativen nutzen gerne neue Techno­logien, um damit innovative Geschäftsmodelle zu gestalten. »Für uns steht hinter dem Begriff D2C eine integrative Kultur, die es braucht, um viele Menschen emotional zusammenzubringen, auch über Länder­grenzen hinweg«, sagt Jamshid Alamuti, Geschäftsführer bei Wildbytes Berlin. Wie das aussehen kann, zeigte die Agentur etwa für die von SEAT und Google gesponserte Konzertreihe »Lost & Sound«. Mittels AR-App konnte man herausfinden, ob Freun­din­nen und Freunde ebenfalls das Musikfestival besuchen und sie dann lokalisieren.

Wo seid ihr? Für die von SEAT und Google gesponserte Konzertreihe »Lost & Sound« kreierte Wildbytes eine AR-App, mit der sich herausfinden ließ, ob Freundinnen und Freunde ebenfalls das Musikfestival besuchen, um sie dann zu lokalisieren.

Für H&M entwarf Wildbytes einen avatarba­sier­­ten Modefilm, der in Echtzeit im Rahmen eines Live-Events im Metaverse gedreht wurde – eines der ers­ten Projekte, mit denen der Fashionkonzern die Mög­lichkeiten dort austestete. Es ging dabei darum, Sus­tai­n­ability und Cutting-Edge-Design zusammenzubringen, die Teilnehmenden kreierten digitale Dop­pelgänger, die anschließend auf einem virtuellen Laufsteg die neueste »H&M Innovation Circular Design Story«-Kollektion präsentierten.

»Das Metaverse bietet Unternehmen ungeahnte Möglichkeiten der Interaktion mit ihrer Commu­nity«, so Jamshid Alamuti. »Für uns Kreative bedeutet das, Projekte ganz neu zu denken. Will man eine Community bilden, in der die Leute nicht nur Zuschauer, sondern ein Teil davon sind, muss man sie in die Story einbauen. Das heißt, man hat mit ­ihrer Diversität und Individualität zu tun.« Es würde nicht funktionieren, alte Geschichten auf neue Plattfor­men zu setzen, Stories müssten visuell und auch sprachlich komplett neu erzählt werden.

Und wer weiß: Vielleicht verlagert sich auch die Verbindung von Online- und Offlinewelt ins Digita­le: »Ein Shop im Metaverse ist theoretisch in der Lage, den physischen Laden zu ersetzen«, meint Jam­shid Alamuti. »Denn anders als in Games, in denen computergesteuerte Avatare gegeneinander spielen, kann man sich im Metaverse ganz normal mit Freunden über die neuen T-Shirts unterhalten – wie auf ­einer Shoppingtour im Real Life.« Diese im Metaverse mögliche soziale Komponente könne reale Lä­den vielleicht tatsächlich ein Stück weit überflüssig machen. Klingt einleuchtend, aber gleichzeitig auch ziemlich beängstigend.

Die gestalterischen Skills, die es dafür braucht, beispielsweise die Erstellung von 3D-Avataren, können viele Krea­tive erbringen, schwieriger wird es mit dem strategischen Know-how – gerade für die neue Art des Storytellings muss man erst mal Erfahrung sammeln. »Als Agentur alleine ist das kaum zu stemmen«, ist Wildbytes-Geschäftsführer Jam­shid Alamuti überzeugt. »Man muss sich Unternehmen suchen, die kein Problem mit dem Kostenfaktor ›Burn money in Metaverse‹ und Lust darauf haben, mit Krea­tiven dort viel auszuprobieren.« D2C bietet also jede Menge neue Herausforderungen für Kreative und natürlich viele spannende neue Brands, die es zu gestalten gilt.

D2C im Trend: New Brands

Schnell handeln

Einfach mal was ausprobieren, statt endlos zu testen – mit dieser Strategie fährt KoRo bislang sehr gut

All in Packagings, Fotos, Videos – bei KoRo entsteht alles inhouse. Als Models müssen da schon mal die eigenen Mitarbeiter:innen herhalten. Die Community der in Deutschland lebenden Muslime sprach KoRo mit einer Facebook- und Instagram-Kampagne an, die sich dem Thema Ramadan widmete.

Ein rasantes Wachstum legt KoRo hin, die Marke verkauft vor allem Nüsse, Trockenfrüchte und Snacks in größeren Einheiten – und spart auf diese Weise rund 30 Prozent Verpackung gegenüber konventionellen Kleinpackungen. Lag der Umsatz 2019 noch bei fünf Millionen Euro, kletterte er 2020 auf 20 Millionen und 2021 auf 62 Millionen, die Zahl der Mit­ar­beitenden stieg auf rund 350, seit März dieses Jahres sind drei neue Investoren an Bord. Bekannt geworden ist KoRo vor allem durch Influencer-Marketing, und das ist auch heute noch eine wichtige Säule. Euro­paweit arbeitet das Unternehmen mit rund 600 In­fluencer:innen zusammen.

Bild: Copyright:Bjoern Dunkmann

Für den Vertrieb nutzt KoRo vor allem den eigenen Onlineshop, ist seit Kurzem aber auch im statio­­­nä­ren Handel zu finden, etwa bei Edeka, Müller, Budni oder dm – mit deutlich kleineren Packungsgrößen, im wahrsten Sinne des Wortes zum Anfüttern. Denn die Hemmschwelle, im Internet ein Kilo Nüsse oder fünf Kilo Datteln zu bestellen, ohne sie vorher probiert zu haben, ist recht groß. Das gesamte Packaging Design, Fotos und Videos entstehen bei KoRo inhouse, nur gelegentlich kommen Free­lan­ce­r:in­nen dazu. Gleiches gilt für die Bereiche PR, Marketing und Daten­erfassung.

Statt sich zu stark auf bestimmte Zielgruppen festzulegen und endlos Tests zu fahren, pro­biert das Unternehmen viel aus, verbucht mögliches Scheitern als Lernerfahrung – und hat dadurch genau die Flexibilität und Schnelligkeit, die D2C-Marken auszeichnen. Kürzlich etwa entwickelte KoRo eine erfolg­reiche Kampagne für Facebook und Instagram rund um das Thema Ramadan, die spezifische Produkte wie Datteln und Couscous bewarb. Eine gute Idee, denn die relativ große muslimische Gemeinschaft in Deutschland wird von Standardlebensmittelmar­ken eher we­nig beachtet. Für die KoRo-Community gibt es einen Blog rund ums Thema Essen sowie ein viermal im Jahr erscheinendes Magazin, das nur ganz am Rande mit der Marke zu tun hat. Mehr investieren will man künftig in physische Events, sponserte kürzlich etwa den Berliner Frauenlauf.

Beziehung aufbauen

Mit dem Brand Shift von Hermes UK zu Evri will der Kurierdienst seine Kund:innen in den Mittelpunkt stellen

Vor allem die vielseitige Schrift, mit der sich fast zweihunderttausend verschie­dene Logos erstellen lassen, sorgt für den freundlichen Ausdruck von Evri

Fällt das Wort Hermes, habe ich sofort ein Bild im Kopf: der immer gleiche, erledigt aussehende Kurierfahrer, der abends zwischen neun und zehn aus seinem klapprigen Wagen klettert, bei uns klingelt und stets in Eile ein Paket abgibt. Nicht gerade das beste Markenimage. Das dachte sich auch Hermes in Großbritannien und ging einen gewagten Schritt: Anstatt das Brand aufzupolieren, gab es eine Neuentwicklung – Hermes heißt jetzt Evri, geblieben ist lediglich das Blau.

Die Londoner Agentur Superunion schuf die neue Marke, die die Kundinnen und Kunden des Kurierdienstes in den Mittelpunkt stellen, nachhaltiger und technologiegetrieben auftreten will. Der Name Evri soll Vielfalt und Individualität verkörpern. Zusammen mit dem Kreativtechnologieteam von Monotype sowie Superunion in Hongkong und Sin­gapur entstand ein generatives Tool, das das Evri-Logo in 194 481 Varianten erstellen kann. Zudem gestaltete Monotype einen Headlinefont, in dem jede Glyphe zwanzig Alternativen hat, die sich nach Belieben mi­schen lassen und so für einen immer wieder neuen Auftritt sorgen können.

Zur Einführung des neuen Brandings lief der von der Agentur VCCP London kreierte TV-Spot »New Arrival«. In sechzig Sekunden erzählt der Film die Geschichte eines Evri-Fahrers, der einer schwan­ge­ren Frau und ihrem Mann bis zur Geburt ihres Kindes immer wieder Päckchen bringt. So will man die Zuschauer daran erinnern, wie persönlich die Be­zie­hung zwischen Kurierfahrer:innen und ihren Kun­dinnen und Kunden ist, mit dem Ziel, »Emotionen in die Kategorie Lieferservice zu bringen«, so die Pres­semitteilung, »und zu zeigen, dass in jedem Paket Liebe und Sorgfalt steckt«.

 

Bisschen hochgegriffen – überhaupt habe ich erst beim zweiten Schauen kapiert, dass es immer dieselbe Familie und die Frau schwanger ist. Vielleicht hätte man das Geld für den TV-Spot lieber den Ku­rierfahrer:innen zugutekommen lassen sollen. Das Branding aber ist richtig gut, auffällig, individuell und durch die Farbe doch noch mit Hermes verwandt, nur viel sympathischer. Das könnten wir in Deutschland auch brauchen.

 

Bitte mitnehmen

Eindringliche Fotos, starker Text und vor allem die dreidimensionalen M aus wasserfester Pappe: So bringt man Menschen dazu, innezuhalten und nachzudenken

Jahrelang stellte die skandinavische Agentur DDB Nord in der Kommu­nikation für ihren Kunden McDonald’s in den Vordergrund, worauf sich die Marke fokussiert: Burger. Der in nicht gerade kleinen Mengen anfallende und viel zu oft achtlos weggeworfene Verpackungsmüll spielte keine Rolle. Jetzt aber findet ein Umdenken statt. »Eine Kampagne zu entwickeln, in der es sachlich um Umweltverschmutzung und Reduzierung von Verpackung geht, hätte nicht genug Wirkung erzielt, um die Wahrnehmung der Marke zu verändern«, meint Aleksander Hetland, Client Service Director bei DDB in Oslo. Deshalb ergriffen die Kreativen etwas extremere Maßnahmen und zeigten die unschöne Seite des Fast-Food-Riesen. Gerade weil man perfekt fotografierte Burger gewohnt ist, sorgten die ungefilterten Bilder von echtem McDonald’s-Müll, gepaart mit der direkten Aufforderung, den eigenen Abfall nicht auf der Straße zu entsorgen, für einen Stopp-Effekt, und schaffen so Bewusstsein für das Thema. »Es ist nie einfach, einen großen Kunden dazu zu bringen, den Fokus zu verlagern. Wir hatten Erfolg, weil wir Schritt für Schritt vorgegangen sind und das Umsatzwachstum als Beweismittel verwendet haben«, so Hetland.

»Agenturen, die für D2C-Brands arbeiten, müssen schnell agieren«

Der Digital-Media-Experte Benjamin Bunte ist Geschäftsführer bei der Hamburger Agentur pilot und leitet auch den neuen Ableger pilot ignite. Wir haben ihn gefragt, wie Agenturen sich aufstellen sollten, um mit dem D2C-Trend Schritt zu halten. 

 

 

Dieser Artikel ist in PAGE 8.2022 erschienen. Die komplette Ausgabe können Sie hier runterladen.

PDF-Download: PAGE 8.2022

D2C im Trend: New Brands ++ Für NGOs gestalten ++ Design für Musiklabels, Artists, Clubs ++ ENGLISH SPECIAL Yuk Fun ++ Speculative Design: Anti-Game mit AR ++ Erklärfilmserie für nature.org ++ Japanisch-deutscher Katalog

9,90 €
AGB

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Das könnte dich auch interessieren