Making-of: So entstand die Virtual Experience »Myriad«
Demnächst im Frankfurter Kunstverein zu sehen: Die Interactive Media Foundation klärt mit der poetischen VR-Experience »Myriad« über die globale Migration von Tieren auf.
PROJEKT VR-Experience »Myriad. Where we connect.«
AGENTUREN Interactive Media Foundation, Berlin (Produktion); Filmtank, Berlin (Produktion); Miiqo Studios, Berlin (Author, Creative Direction, Art Direction, Story, Text); Artificial Rome, Berlin (Visual Lead, 3D Art Direction, Unity Programming)
FÖRDERUNG MFG Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg, Stuttgart; Medienboard BerlinBrandenburg, Postdam-Babelsberg; Canada Media Fund, Québec; Bell Fund, Toronto
TOOLS Papier und Zeichenkohle, Unity, Cinema 4D
ZEITRAUM Mai 2019 bis August 2021
Making-of VR-Experience: Wie alles begann
»Myriad« ist nicht das erste Projekt, das die IMF mit diesen Partnern entwickelt hat. 2018 etwa launchte sie die gemeinsam mit Artificial Rome umgesetzte VR-Installation »Inside Tumucumaque«, bei der man den brasilianischen Regenwald aus der Perspektive verschiedener tierischer Bewohner erleben konnte. Als sie diese vor Schweizer Zoodirektoren präsentierten, kam der entscheidende Anstoß, der »Myriad« ins Rollen brachte.
»Ein Teilnehmer erzählte mir von der menschlich geführten Wiederansiedelung des Waldrapps in den Alpen«, so Michael Grotenhoff. »Das hat mich sofort fasziniert und ich fing an, mich intensiver mit dem Thema Tiermigration zu beschäftigen.« Dabei stieß er auf das Projekt »Icarus« des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie: Eine Vielzahl von Tieren wird weltweit in Echtzeit über ein an die Raumstation ISS angedocktes Antennensystems getrackt und die Daten in die so genannte Movebank übertragen. Auf dieser Basis lassen sich die globalen Wanderungen der Tiere erforschen.
Aus der Geschichte des Waldrapps wurde also schnell mehr, und die IMF entschied sich, das Ganze anhand von drei verschiedenen Tieren zu erzählen. Grotenhoff stellte ein Team aus den bereits bekannten Partnern zusammen und machte sich auf die Suche nach Sponsoren. Neben der MFG Baden-Württemberg und dem Medienboard BerlinBrandenburg förderten der Canada Media Fund und der kanadische Bell Fund das Projekt. Im Sommer 2019 konnte es dann mit der »Myriad«-Produktion losgehen.
VR-Storytelling: Den visuellen Stil finden
Die Projekte der IMF bringen häufig Kunst, Wissenschaft und Storytelling zusammen. Entsprechend sollte auch »Myriad« einen künstlerisch-poetischen Einstieg in das Thema Tiermigration geben – auf der Grundlage der Movebank-Daten. Dass es ein abstrakt-illustrativer Stil sein würde, war von Anfang an klar: »Wenn man Natur realitätsgetreu nachbilden will, kann man nur verlieren«, erklärt Torsten Sperling, Creative Technologist und Mitgründer von Artificial Rome.
Nach einigem Herumexperimentieren entschied sich das Team für Kohle(nstoff) als zentrales künstlerisches Mittel. Dies ermöglicht nicht nur eine vielseitige, spannende Ästhetik, sondern passt auch inhaltlich perfekt: »Das chemische Element Kohlenstoff ist die Grundlage allen Lebens auf der Erde. In ›Myriad‹ verkörpert es das narrative und ästhetische Bindeglied zwischen einzelnen Elementen und globalen Netzwerken. Es zeigt, dass alles Teil eines ewigen Kreislaufs ist«, so Sebastian Baurmann, CEO und Creative Director von Miiqo Studios. Dirk Hoffmann, Visual Lead Artist und ebenfalls Mitgründer von Artificial Rome mit einem Hintergrund in bildender Kunst, experimentierte daraufhin mit Zeichenkohle. Er betrachtete sie unter Lupen, zerbröckelte und zerrieb sie und fertigte unzählige Zeichnungen und Makroaufnahmen an. Diese Kompositionen legten den Grundstein für das finale Artwork.
3D-Raum: Vom Analogen ins Digitale
3D Artist Nico Alexander Taniyama übertrug die Kohlezeichnungen in die 3D-Umgebung Unity. Dabei wurden die analogen Texturen zunächst den jeweiligen 3D-Modellen der Tiere in Cinema 4D zugewiesen. Die Landschaft hingegen entstand direkt in Unity. Zusätzlich baute das Team von Artificial Rome einzelne Objekte, darunter Berge, die Ruinen von Palmyra oder eine Steinschildkröte, die wie die Landschaft ebenfalls eine analoge Kohletextur bekamen. Die Lichtgestaltung, die Beschaffenheit des Wassers sowie den Schneesturm in der Arktis erzeugten die Kreativen mithilfe spezieller Shader in Unity. Um die Experience noch unmittelbarer und realer wirken zu lassen, wurde ein Partikel- und Cloud-System in Verbindung mit einzelnen Linien und Staubtexturen in den 3D-Raum eingesetzt.
Der Aufwand hat sich gelohnt:
»Man merkt dem Projekt einfach an, dass die Ästhetik per Hand entstanden ist und nicht per CGI. Das sorgt für ein besonderes Gefühl von Haptik«
sagt Torsten Sperling. In der finalen Anwendung formen sich die Landschaften aus Kohle immer wieder neu und vermitteln so ein Verständnis dafür, dass die Welt sich im permanenten Wandel befindet – und dabei doch stets aus demselben Stoff besteht.
Die Tiere animieren
In der VR-Experience ist ein Mix aus Realfilm und 3D-Animation zu sehen. Die Tiere zu filmen war besonders im Fall des Waldrapps ein abenteuerliches Unterfangen. »Wir erfuhren von einem Projekt in der Nähe von Salzburg, bei dem mittels Windkanälen untersucht wird, wie die Vögel so energiesparend fliegen«, erzählt Grotenhoff. »Um sie im Nachhinein gut freistellen zu können, haben wir den gesamten Windkanal grün angemalt. Es war sehr experimentell – und total faszinierend.« Die Polarfüchse filmte das Team in einem Zoo bei Cuxhaven, die Grüne Meeresschildkröte wurde aus bereits vorhandenen Dokumentarfilmaufnahmen in einem speziellen Verfahren in 3D-Optik umgewandelt, indem die Aufnahmen rotoskopiert und auf einen 3D-Körper projiziert wurden.
Bei den Animationen legten die Creature Artists besonderen Wert auf die Bewegungsabläufe. »Sie sind es, die die Tiere authentisch wirken lassen. Die visuellen Details der Kohlefragmente in der Tiertextur bilden die Verbindung zur Landschaftsgestaltung«, erklärt Dirk Hoffmann. Wichtigste Informationsquelle für die Kreativen waren dabei wissenschaftliche Expert:innen, etwa vom Stralsunder Meeresmuseum, die auch Bild- und Filmmaterial zur Verfügung stellten. Gemeinsam mit ihnen wählten Miiqo Studios und Articifial Rome die benötigten Sequenzen aus. »Tierbewegungen lassen sich nun mal nicht einfach nur loopen«, so Sebastian Baurmann. »Wir haben viele Feedbackschleifen mit Wissenschaftlerrn gedreht, um sie so natürlich wie möglich zu gestalten.«
VR-Technik: Neues entsteht durch Vertrauensvorschuss
Die Kombination aus analogen Kohlezeichnungen, realen Filmaufnahmen und 3D-Animationen gab es so noch nie. »Wir haben innerhalb bekannter Technologie mit einer ganz neuen Technik gearbeitet. Das war ein Risiko, aber es hat funktioniert«, so Torsten Sperling. Zum Glück traf die Experimentierfreude auf großes Vertrauen, Geduld und das notwendige Maß an Abstraktionsvermögen aufseiten der IMF. »Ich habe schon bei den vergangenen Projekten gelernt, dass sich die Liebe zum Detail immer auszahlt«, meint Michael Grotenhoff.
Das Ergebnis ist visuell minimalistisch, aber eindrucksvoll und konzeptionell überzeugend. Ein besonderes Highlight ist der binaurale Sound, der sich mit der eigenen Bewegung innerhalb der VR-Umgebung verändert – so werden etwa die Wellen lauter, wenn man näher ans Wasser herangeht. Diese Flexibilität ist es auch, die die VR-Experience von anderen Formaten abhebt: Als User kann man sich relativ frei bewegen, höher oder niedriger fliegen, schneller oder langsamer schwimmen – die Experience passt sich in Echtzeit an. »Wir gehen bei ›Myriad‹ an die Performance-Limits. Wir arbeiten mit großen Texturen und vielen analogen Bildern, außerdem gibt es keine Wiederholungen bei den Landschaftsmotiven«, erklärt Torsten Sperling. Kein Wunder, dass man während der Experience ab und zu die Rechner rauschen hört.
Venice VR Expanded: Weltpremiere in Venedig
»Myriad« feierte im Rahmen des Wettbewerbs Venice VR Expanded bei den 78. Filmfestspielen in Venedig Premiere. Einen Löwen gewann das Projekt zwar nicht, aber allein die Nominierung macht das Team stolz. Außerdem gab es schon diverse andere Nominierungen, etwa bei Raindance Immersive in London, sowie Silber beim Annual Multimedia Award 2022. Den aktuellen Tourplan der VR-Experience kann man auf https://myriad.earth verfolgen.
Zu dem Projekt gehört außerdem noch viel mehr, etwa eine 360-Grad- sowie eine TV-Dokumentation. Geplant sind zudem eine immersive Installation, Citizen Science Labs, an denen sich Menschen aktiv beteiligen können, sowie weitere Medienformate. »Es gibt unendlich viele spannende Geschichten und offene Fragen rund um Tiermigrationen, zum Beispiel wie sich Grenzzäune darauf auswirken. Das müssen die Leute wissen!«, so Grotenhoff. Klar ist: Das Thema lässt die Projektbeteiligten nicht mehr los – und auch mich als Besucherin nicht.
Dieser Artikel ist in PAGE 01.22 erschienen. Die komplette Ausgabe können Sie hier runterladen.