Designmetropole Mexico City
Handwerk und Kunst, Tradition und Aufbruch: Mexico City hat sich in eine brodelnde Designmetropole verwandelt. Wir haben die aufregendsten Kreativstudios besucht.
Ihr Studio sei dazu da, all die spannenden Dinge, die in Mexico City passieren, irgendwie zusammenzubringen, sagen sie über Savvy. »Hier ist die Arbeit viel unorganisierter, es gibt keinen festgelegten Weg zum Ziel.« Auch deshalb könne man immer wieder neue Lösungen finden. Als sie einen Weber entdeckten, der mit einer sehr alten Technik arbeitet, gaben sie bei ihm große Paneele für ein Restaurant in New York in Auftrag. Ein anderes Mal leiteten sie aus Fliesen, die aus den verschiedenen Erden nahe Oaxaca bestehen, ein Branding ab. Für das Packaging eines Mezcals, der in Fässern reift, die zur Hälfte aus Ton und aus Kupfer bestehen, ließen sie zwei Papiere herstellen: ein handgeschöpftes, das warm wie Ton ist, ein laminiertes, kühl wie Kupfer.
Ihr Stil ist minimalistisch und pur. Statt Ornamenten lassen die Designer Materialien sprechen, Weißraum und Typografie. Außer wenn es um Schokolade geht. Man kann sagen, dass Rafael besessen von ihr ist, lacht Bernardo. Und so haben sie aus dicken Tafeln in ihrem Studio eine ganze Stadt gebaut, die so futuristisch wie köstlich war: Während man sie erkundete, konnte man sich Stückchen zum Probieren abbrechen.
Kühner Mix
Ständig geht es in Mexico City ums Essen. Vom Kakao, den schon die Azteken verwendeten, über das beste Streetfood zu Märkten und neuen, gefeierten Restaurants. Zu ihnen gehört auch das Elly’s, dessen Erscheinungsbild die Kreativagentur Futura entwickelt hat. Es liegt abseits der großen Straßen und sucht man es, findet man einzig eine Leuchtreklame mit einem großen geöffneten Mund darauf, in dem das Meer rauscht. Nirgends steht ein Name, die Tür ist zu. Aber jeder ist willkommen. Vorausgesetzt, er hat eine Reservierung für einen der begehrten Tische ergattert oder einen Platz an der Bar, wo man dabei zuschauen kann, wie das Küchenteam Gerichte zaubert, in denen mexikanische und mediterrane Einflüsse aufeinandertreffen.
Und er kann sich in das Erscheinungsbild versenken, das auf der Karte, den Untersetzern und an den Wänden leuchtet und Momente aus dem Leben der Restaurantchefin Elisabeth Fraser zeigt. In kräftigem Rot, Blau und in Rosé und im Pop-Art-Style erzählt es von den Ausflügen, die die New Yorkerin mit ihrem italienischen Vater unternommen hat, davon, wie sie Erdbeeren pflückten oder er abends Fisch gekocht hat. Und dazu sieht man überall rot geschminkte Lippen, wie Elly sie immer trägt.
»Wir versuchen, in unserer Arbeit den Witz und Charme Mexikos zusammenzubringen«, sagt Kreativdirektor Daniel Martínez. »Der Humor gehört zu uns – ebenso, wie alles zu mischen. Gehst du in die Taquería an der Ecke, hat jemand ziemlich dilettantisch Mickey Mouse an die Wand gemalt, und das ganz in Schwarz«, lacht er, »selbst gemachte Flaschenlabel erinnern an Coca-Cola, sind jedoch leuchtend gelb. Hier wird alles zusammengeworfen und neu interpretiert.« Wie in ihrem Branding für einen Mezcal, bei dem religiöse Symbole auf Hochprozentiges treffen. Aqua Bendita, heiliges Wasser, haben sie ihn genannt, die Flasche erinnert an eine Kirchenglocke, die Muster an Kirchenfenster, und blickt man durch die Flasche aufs Etikett, sieht man Leute feiern.
Kandinsky in Acapulco
Farbe spielt eine wichtige Rolle in den Arbeiten von Futura. Aber sie wollen auf keinen Fall das Klischee bedienen, dass die mexikanische Kultur vor allem aus Mariachis und Frida Kahlo besteht. »Natürlich war sie eine tolle Künstlerin. Aber es gibt viel mehr Interessantes hier, die Mythologie der Azteken, die schwarze Tonkunst aus Oaxaca oder die alebrijes, tierähnliche Fantasiefiguren aus bunt angemaltem Holz.« Ein Schnitzer erfand sie, nachdem ihm in Fieberträumen Kreaturen erschienen, die halb Drache, halb Pferd waren.
»Wir lieben die Fantasie, das Nichtreale, Traumhafte und Ausgelassene«, sagt die Projektmanagerin Brenda Urcid, deren Samtblazer mit Puffärmeln so elegant schwarz schimmert wie der barra negra, der seltene mexikanische Ton. »Zugleich aber haben wir ein Faible für die ganz einfachen Dinge, für das mexikanische Wabi-Sabi, das Simple und das Unperfekte, wie der berühmte Architekt Luis Barragán. Zwischen diesen Polen bewegt sich unsere Arbeit.« Daher seien sie bekannt dafür, zusammenzubringen, was eigentlich nicht zusammenpasst. »Nackte Kerle und Erdnussbutter«, lacht Brenda, wie in ihrem Branding des Nut Butter Ateliers Buddy Buddy. Oder Art déco und Tingatinga, die afrikanische Maltechnik, die aus Abertausenden Punkten besteht und den Auftritt des Hotels Don Bonito bestimmt. Für das Designstudio León León, das den berühmten Acapulco Chair mit ungewöhnlichen Materialien neu erfindet, haben sie sich überlegt, wie Kandinsky wohl malen würde, wäre er statt in Moskau in Acapulco geboren.
Eines aber lassen sie ganz pur: Ihr umwerfendes Studio, das sich in einem brutalistischen Gebäude aus den 1950ern befindet. Schon das Entree ist ein Erlebnis. Es führt an einem Fiberglaskubus, groß wie ein Campingwagen, vorbei, und lässt einen über Steinpoller durch ein Wasserbecken zum Fahrstuhl balancieren. Die Türklinken sind in einem Kreis in der Mitte angebracht, die Fenster ellipsenförmig und an den rauen Betonwänden schlängelt sich Monstera entlang. Mehr Style geht nicht. Und auch kaum mehr mexikanisches Wabi-Sabi.
Alles im Raster
»Weißt du eigentlich, dass wir alle in Monterrey angefangen haben?«, fragt Sebastian Padilla, einer der Gründer von Anagrama, »Futura, Savvy und auch wir.« Und alle sind vor zehn Jahren nach Mexico City gezogen. In den melting pot mit fast 9 Millionen Einwohnern, wo die großen Firmen und wichtigen Werbeagenturen sitzen. Bis die jungen Wilden aus dem Norden kamen, gab es hier einzig ein Design, das ultrakommerziell und laut war.
In Monterrey hingegen, nah an der Grenze zu den USA, habe sich eine ganz neue Generation von Gestaltern entwickelt, erzählt Sebastian. Das begann, als ein französischer Grafikdesigner Ende der 1990er mit seinem Studio ¾ Face in die Industriemetropole zog. »Er hatte sich in eine Mexikanerin verliebt. So heißt es zumindest«, sagt Sebastian. Und er brachte das europäische Grafikdesign nach Mexiko. Auch wenn er zwei Jahre später wieder verschwand, hatte seine klare Formensprache die junge Designszene dort erobert, die Ästhetik eines Josef Müller-Brockmann, das Arbeiten mit Gestaltungsrastern. »Das wurde an keiner Akademie gelehrt.«
Jetski des Designs
Die Entscheidung, mit ihrem Headquarter nach Mexico City überzusiedeln, war für Anagrama auch eine strategische. Ein prägnantes, minimalistisches Design, wie sie es entwerfen, gab es dort noch nicht. Waren sie bereits in Monterrey erfolgreich, sorgt ihre kunstvolle Formensprache, ihre ausgelassenen Farbspiele und kühnen Ideen jetzt international für Furore. Und ihr beeindruckender Output. Verglichen damit wirkt ihr verwinkeltes Studio, das ziemlich unauffällig im Erdgeschoss an einer großen Straße liegt, nahezu klein.
»Wir sind superschnell in dem, was wir tun«, sagt Sebastian. Das läge auch an den niedrigeren Budgets und sei einer der großen Vorteile. »Im Vergleich zu den großen Agenturen mit ihren verschiedensten Abteilungen, langsam wie ein Ozeandampfer, sind wir wie Jetski«, lacht er. Auch wenn bei Anagrama mittlerweile mehr als dreißig Leute arbeiten. »Vor allem sind wir in Mexico City auch alle Überlebenskünstler«, sagt Daniela Garza, Creative Partner. »Es ist laut hier, voll und chaotisch, ständig muss man improvisieren. Das hilft, in seiner Kreativität flexibel zu bleiben.« Wenn Anagrama etwa Nagelsalons in Kuwait mit einem Erscheinungsbild versieht, Schokozahnseide aus Kalifornien oder ein Delikatessengeschäft in der Schweiz.
Ihre Designsprache sei international, sagen sie. Natürlich sprächen sie Spanisch, und wie in jeder Kultur beeinflusse die jeweilige Sprache auch das Denken. Besonders eng verknüpft mit ihrem mexikanischen Erbe sehen sie ihre Arbeiten nicht. »Natürlich gibt es hier traditionell ein Faible für Farben. Das beeinflusst vielleicht unseren Stil.« Aber gleichzeitig habe das Internet sowieso alles verändert. »Vor zehn Jahren noch haben wir umständlich Links von coolen Studios herauskopiert und gesammelt. Heute kann man sich vor Inspiration gar nicht retten und ist damit beschäftigt, das wirklich Aufregende irgendwie herauszufiltern.«
Blick in die Welt
Statt zurück blicken sie lieber mitten ins Leben hinein. »Ich mag an Anagrama besonders, dass wir hier so offen sind und eine Idee von überallher kommen kann«, sagt Daniela, »von einem Rezept, das jemand am Wochenende gekocht hat, einem Lied aus dem Radio oder einer Farbe, die man entdeckt hat.« So wie das knallige Pink, das von der Flasche des Mezcals tropft, den sie gebrandet haben. El Pintor, der Maler, heißt er. Oder das Erscheinungsbild der Immobilienfirma Balzac, in der sie die Perfektion von Rodins Bildhauerkunst zitieren, die jemand zuvor im Museum gesehen hatte. »Ich finde es viel spannender, den Blick nach außen zu richten, darauf, was in der Welt passiert, und es nach Mexiko zu bringen als umgekehrt«, sagt Sebastian.
Verlangt es das Briefing, beruft Anagrama sich aber gerne auf ihre Kultur und versucht, sie mit einem frischen Blick neu zu interpretieren. Wie für die Schokolade »Manos de Cacao«, deren Packaging es in kleine Kunstwerke aus Farben und Textur verwandelte, die für die handgemachte Herstellung und die jeweilige Region der Kakaobohnen stehen – und ganz universell abstrakte Malerei zitieren. Oder für die Gestaltung einer Mezcal-Bar, die Anfang des Jahres in Roma eröffnete. Hipster und expats drängeln sich dort in spärlichem Licht, das an das Innere einer Pyramide erinnert, während ein wandgroßer, stilisierter Totenkopf aus Holz sie fest im Blick hat und gegenüber ein fein gedrechseltes großes Rad an der Wand prangt. Es wirkt, als könnte man damit das Tor in eine andere Sphäre öffnen. Zurück zu den Azteken oder in die Welt hinaus.