
Tod und Trauer in digitalen Zeiten
Wir alle hinterlassen im Laufe unseres Lebens Unmengen Spuren im Netz. Was passiert mit diesem digitalen Nachlass, wenn wir sterben? Und wie verändert die Digitalisierung unsere Art zu trauern? Wir erklären, warum sich Designer dieser Fragen annehmen sollten und warum ihre Expertise gefordert ist.
Digitaler Nachlass
Auf Facebook gibt es bereits Millionen von Profilen Verstorbener – irgendwann wird ihre Anzahl die der Lebenden übersteigen, so eine gängige Prognose. Das macht Facebook zu einer »versehentlichen Gedenkplattform«, wie die britische Soziologin Debra Bassett es nennt (siehe Interview unten). Das Social Network hat auf diesen Umstand reagiert, indem es den »Gedenkzustand« eingeführt hat. Dieser erlaubt es, Profile von Verstorbenen zu erhalten und sie als Orte der Erinnerung und für den Austausch mit anderen Hinterbliebenen zu nutzen. Zudem kann man in den Einstellungen einen Nachlasskontakt angeben, also jemanden bestimmen, der sich später um den Account kümmern soll – sei es, ihn als Gedenkstätte fortführen oder löschen lassen. Ansonsten greift das Gesetz: Laut Bundesgerichtshof geht der digitale Nachlass genauso auf die Erben über wie der physische. Wer das anders handhaben möchte, kann in seinem Testament einen Bevollmächtigten benennen. Dafür muss man sich natürlich rechtzeitig mit dieser Frage beschäftigen.
Neben den »versehentlichen Gedenkplattformen« wie Facebook, Twitter oder XING gibt es auch Anbieter, die sich ganz bewusst mit dem digitalen Leben nach dem Tod beschäftigen. SafeBeyond etwa verspricht eine »emotionale Lebensversicherung«: In einer Art digitalen Zeitkapsel können User Botschaften hinterlassen, die zu bestimmten Anlässen an Angehörige verschickt werden. Einen ähnlichen Service bietet Megilla an, bei dem Mitglieder ihre Lebensgeschichte in Videos erzählen, um sie für die Nachwelt zu bewahren. Manche Start-ups gehen aber noch weiter: Sie wollen Avatare und Chatbots erschaffen, die es bald ermöglichen sollen, mit den Toten zu kommunizieren.
Chatbots aus dem Jenseits
Der Rumäne Marius Ursache hat ursprünglich Medizin studiert, ein Designstudio eröffnet und dann noch einmal am MIT an einem Entrepreneurship Development Program teilgenommen. Dort entwickelte er 2014 die Idee für Eternime, einen Dienst, der Verstorbene als Avatare weiterleben lässt. Die App sollte zu Lebzeiten Informationen und Daten von Personen sammeln – Nachrichten, Bewegungsprofile, Fotos, Facebook-Aktivitäten et cetera – und daraus ein digitales Alter Ego erstellen, das nach dem Tod mit den Hinterbliebenen kommunizieren kann. Bereits für den Betatest der App meldeten sich über 40 000 User an.
»Bisher hat Technologie noch nichts dazu beigetragen, uns den Umgang mit dem Tod zu erleichtern«, sagte Marius Ursache in einem Talk auf der TEDx Bukarest 2019. Das wolle er ändern. Bereits 2018 nahm das Victoria and Albert Museum in London Eternime in der Ausstellung »The Future Starts Here« als eines von 100 Projekten auf, die die Welt von morgen verändern werden. Derzeit pausiert die Entwicklung des Projekts allerdings wegen »lack of funding«, wie Marius Ursache auf Anfrage mitteilte.
Ähnlich gelagert ist die App Replika. Als ein enger Freund starb, hatte die Russin Eugenia Kuyda die Idee, basierend auf seinen Nachrichten an Freunde und Bekannte (insgesamt über 10 000!) einen Chatbot zu bauen. Im Gegensatz zu Eternime gelang das Unterfangen und der Bot wurde tatsächlich freigeschaltet und ermöglichte es den Hinterbliebenen, mit dem Verstorbenen »in Kontakt zu bleiben«. Daraus entwickelte sich schließlich der heutige Service von Replika, mit dem man einen persönlichen KI-Begleiter erschaffen kann. Indem man regelmäßig mit dem Chatbot kommuniziert und ihn quasi als digitales Tagebuch nutzt, lernt dieser immer mehr über eine Person, gleicht sich in Tonfall und Vokabular an – und wird so ebenfalls zu einem digitalen Alter Ego, das den Nutzer theoretisch überleben kann.
Auch für den Entwickler James Vlahos gab ein persönlicher Verlust den Ausschlag, sich mit Afterlife-Chatbots auseinanderzusetzen. Als sein Vater an Lungenkrebs erkrankte, interviewte er ihn zu seinem Leben und programmierte basierend auf den Aufnahmen einen »Dadbot«, der die Persönlichkeit seines Vaters widerspiegelte. Als er das Projekt veröffentlichte, erhielt er so viele Nachfragen, dass er 2019 die Firma Hereafter gründete, mit der er solche voicebasierten Erinnerungs-Chatbots nun kommerziell anbietet. Im Gegensatz zu bloß abrufbaren Aufzeichnungen verspricht Hereafter einen Dialog, geführt über Devices wie Amazon Echo oder Google Home. Die Technik stehe noch am Anfang, räumt Vlahos in einem Interview mit »brand eins« (Ausgabe 02/2020) ein, aber er ist sicher, dass die Erinnerungs-Bots in Zukunft auch zu komplexen Unterhaltungen in der Lage sein werden.
Wie wollen wir fortleben?
Abgesehen davon, ob uns solche digitalen Avatare unheimlich sind oder nicht, werfen sie ethische und technische Fragen auf. Etwa: In welchem Alter möchten wir digital konserviert werden? Schließlich verändert sich die Persönlichkeit im Laufe der Zeit. Außerdem gibt es in der Selbstdarstellung ja verschiedene Facetten, je nachdem, mit wem man spricht. Wie bringt man einem Chatbot bei, wie er wem gegenüber auftreten soll – und dass er bestimmte Informationen nicht mit all seinen Gesprächspartnern teilt? Dazu kommt die Ungewissheit, mit der die Entwicklung von künstlicher Intelligenz einhergeht – man denke nur an Microsofts Twitter-Chatbot Tay, der innerhalb von Stunden zu einem rassistischen, antisemitischen Extremisten mutierte. So möchte wohl keiner von uns fortleben.
Da die Entwicklung in diese Richtung dennoch wohl kaum aufzuhalten ist, fordern einige Wissenschaftler – darunter Carl Öhman und Luciano Floridi vom Digital Ethics Lab der Oxford Universität – gesetzliche Rahmenordnungen für die sogenannte Digital Afterlife Industry. Zu den Mindestanforderungen müsse gehören, dass Nutzer darüber informiert werden, wie ihre Daten nach ihrem Tod aufbereitet werden; dass sie nicht radikal anders dargestellt werden als in der Variante, für die sie sich zu Lebzeiten entschieden; und dass Nutzer nur eigene Daten hochladen können – also keine Bots aus verstorbenen Angehörigen oder Freunden ohne deren Einwilligung erstellen können. Da eine solche Gesetzgebung noch in weiter Ferne liegt, plädiert unter anderem die Soziologin Debra Bassett für eine freiwillige Selbstverpflichtung von Designern und Betreibern entsprechender Dienste (siehe Interview unten).
Digitale Trauerbegleitung
Weniger am digitalen Nachlass als vielmehr an der Unterstützung von Trauernden ist Jens Adamaszek interessiert. Er arbeitet im Rahmen seiner Masterthesis im Studiengang Leadership in Digitaler Kommunikation an der Universität der Künste Berlin an einem Konzept für einen digitalen Trauerbegleiter, der Hinterbliebene bei der Verarbeitung der Trauer und bei der Bewältigung des Alltags unterstützen soll. Er hat verschiedene Hypothesen für Funktionalitäten der App aufgestellt, deren Sinnhaftigkeit er derzeit bei professionellen Trauerbegleitern abfragt. Ziel seiner Masterarbeit ist es, ein Grobkonzept der Anwendung zu erstellen. Noch ist die Idee zwar recht weit von der Umsetzung entfernt, aber perspektivisch möchte Adamaszek sie gemeinsam mit Anne Litta, die ihn zu der Beschäftigung mit dem Thema animiert hat, zum Leben erwecken.
Angebote wie dieses gibt es so in der Tat noch nicht – obwohl eine digitale Hilfestellung für Trauernde, besonders für die jüngeren Generationen, sehr sinnvoll erscheint. Sogenannte Trauerportale im deutschsprachigen Raum sind dagegen meist reine Todesanzeigen-Sammlungen von Regionalzeitungen. Etwas moderner ist das Onlinemagazin »Trauer now«, das mit Artikeln und Reportagen über das Thema informiert sowie Anlaufstellen für Hilfesuchende auflistet. Auch das Bestattungshaus mymoria ist im digitalen Zeitalter angekommen: Dort kann man Bestattungen online planen. Eher befremdlich mutet dagegen der »Bestattungskonfigurator« von Bestattung Wien an, bei dem man sich zwischen den »Bestattungslinien« »klassisch«, »naturverbunden«, »exklusiv«, »individuell« und »preisbewusst« entscheiden kann – jeweils versehen mit Stockbildern der vermeintlichen Zielgruppe.

Das eigene Sterben gestalten
Services wie dieser verdeutlichen den schmalen Grat, auf dem sich Angebote rund um Sterben und Trauer bewegen. Aber es müssen gar nicht unbedingt ausgefeilte Apps oder digitale Avatare sein: Auf Basis des Internets lassen sich auch andere Formen des Austauschs, der Trauerbegleitung und generell des Umgangs mit dem Tod gestalten. So gibt es vor allem in den USA erste Anzeichen für eine »Death Wellness«-Bewegung, die offener an das Thema Sterben herangeht und dazu ermuntert, das eigene Sterben nicht nur zu akzeptieren, sondern auch bewusster zu gestalten.
Eventreihen wie »Death over Dinner« oder »The Dinner Party«, die sich gezielt an Millennials richtet, Festivals wie »Reimagine End of Life« oder die Community »Order of the Good Death« wollen Tabus brechen, Gespräche über den Tod gesellschaftsfähiger machen und Betroffene zusammenbringen. Viele davon warten mit hochwertigen und modernen Erscheinungsbildern auf und sind versiert im Umgang mit Social Media und Onlinemarketing. Im deutschsprachigen Raum findet sich bislang nichts Vergleichbares. Hier ist also noch einiges zu tun.
Zugegeben, das Thema ist heikel, aber gerade deshalb verdient es mehr Aufmerksamkeit – auch und vor allem von Designern.
Lesetipp »Design & Ethik«: Das können wir besser! Wie Designer ethischen Herausforderungen gerecht werden, lesen Sie unter www.page-online.de/design_ethics

»Wir tragen die Toten in unserer Hosentasche«
Die britische Soziologin Debra Bassett hat in ihrer Doktorarbeit an der University of Warwick erforscht, wie digitale Medien unsere Art zu trauern verändern. Sie appelliert an Designer, der Bedeutung von digitalen Nachlässen mehr Beachtung zu schenken. Wir sprachen mit ihr über versehentliche und intentionale Gedenkplattformen, verlorengegangene Erinnerungsstücke und digitale Zombies.

Wie beeinflussen digitale Medien unsere Art zu trauern?
Debra Bassett: Sie verändern vor allem die Bedeutung, die wir digitalen Besitztümern zuweisen. Zum Zeitpunkt ihrer Erzeugung mögen WhatsApp-Nachrichten, Facebook- oder LinkedIn-Profile selbstverständlich oder bedeutungslos erscheinen, aber sobald ein Mensch stirbt, bekommen sie für die Hinterbliebenen einen ganz neuen Wert. Ich bezeichne sie als unbeabsichtigten Nachlass, im Gegensatz zu einem bewussten Erbe. Plattformen, die eigentlich für den Austausch zwischen Lebenden konzipiert sind, werden so plötzlich von Verstorbenen bevölkert. In meiner Forschung unterscheide ich zwischen diesen versehentlichen Gedenkplattformen und solchen, die explizit für diesen Zweck ins Leben gerufen wurden. Letztere geben Nutzern die Möglichkeit, ihr digitales Leben nach dem Tod bewusst zu gestalten beziehungsweise intentionale Botschaften zu hinterlassen. Zu diesen Anbietern gehören etwa SafeBeyond und Eternime.
Die sogenannte Digital Afterlife Industry.
Genau. Einige Tech-Konzerne glauben, dass man diesen Bereich monetarisieren kann. Ich bin mir da nicht so sicher. Im Laufe meiner Forschung habe ich einige dieser Plattformen untergehen sehen. Diese Firmen versprechen, einen für alle Ewigkeit im Internet lebendig zu halten – und gehen selbst nach zwei Jahren pleite. Ich frage mich: Was passiert dann mit den Daten, mit all diesen wertvollen Erinnerungen, die Menschen kreiert haben? Die versehentlichen Gedenkplattformen haben zwar den Nachteil, dass sie gewissermaßen hinterherhinken – aber viele von ihnen gehen mit der Problematik wesentlich besser beziehungsweise sensibler um. Facebook hat zum Beispiel die Möglichkeit eingeführt, die Profile Verstorbener in einen Gedenkzustand versetzen zu können. Dadurch werden sie zu digitalen Anlaufstellen für Trauernde. Sowohl die Gestaltung von unabsichtlichen als auch von intentionalen Trauerplattformen verlangt eine besondere Vorsicht von Designern, denn es geht hier um weit mehr als Nullen und Einsen. Es sind nicht nur die Daten von Verstorbenen, sondern es sind Erinnerungsstücke, die für Hinterbliebene einen immensen Wert haben, der sich von denen physischer Hinterlassenschaften wesentlich unterscheidet. Für Trauernde enthalten sie nichts weniger als das Wesen der Toten.
Haben Sie einen Vorschlag, wie man die angemessene Vorsicht gewährleisten kann?
Ich plädiere in meiner Arbeit für freiwillige Verfahrensregeln für die Digital Afterlife Industry. Manche Wissenschaftler fordern gesetzliche Regelungen, aber das dauert meines Erachtens zu lange. Ich möchte, dass Hinterbliebene, die einen digitalen Nachlass erben, sensibel behandelt werden. Dazu gehört unter anderem eine transparente Aufklärung darüber, was mit den Daten passiert, wenn ein solches Unternehmen verschwindet. Es betrifft aber vor allem das Angebot selbst. In meiner Forschung habe ich zum Beispiel festgestellt, dass viele Menschen Bedenken gegenüber terminierten Nachrichten hatten – also Botschaften von Verstorbenen, die zu besonderen Anlässen wie Geburts- oder Jahrestagen überliefert werden. Anbieter wie SafeBeyond gehen davon aus, dass es wunderbar ist, zum 21. Geburtstag einen Gruß von dem verstorbenen Vater zu bekommen. Diese Vorstellung verursacht bei den meisten Hinterbliebenen jedoch keine Freude, sondern vielmehr Grauen. Hier muss im Vorfeld unbedingt mehr User Research betrieben werden! Eine Lösung wäre etwa die Möglichkeit, alle Botschaften in dem Moment abrufen zu können, an dem man selbst dafür bereit ist.
Die Hinterbliebenen sollten also die Kontrolle behalten.
Unbedingt. Kontrolle war ein sehr wichtiges Thema für alle Trauernden, die ich befragt habe. Damit hängt auch die Sorge zusammen, das digitale Erbe zu verlieren – ich nenne dies »die Angst vor dem zweiten Verlust«. Die Toten leben heute in unseren Smartphones weiter, wir tragen sie in unseren Hosentaschen mit uns herum. Die Bindung zu ihnen ist stärker als jemals zuvor. Das gibt den Hinterbliebenen einerseits Halt und führt andererseits zu einer neuen Form der Angst – nämlich der, die digitalen Erbstücke zu verlieren, wie durch Softwareupdates oder Ähnliches.
Sind diese digitalen Erinnerungen nicht hinderlich für den Trauerverlauf?
Das habe ich zu Beginn meiner Forschung auch gedacht. Es hat sich aber herausgestellt, dass sie für die meisten Hinterbliebenen sehr tröstlich sind und zu ihrem kostbarsten Besitz gehören – vorausgesetzt, sie haben die Kontrolle über die Daten sowie freien Zugang zu ihnen. Unter Trauerforschern und Psychologen hat sich heute die »Continuing Bonds«-Theorie etabliert, die auf eine bewusste Erinnerungskultur setzt. Die Idee dahinter ist, dass die Bindung zu den Verstorbenen bestehen bleibt, aber eine neue Bedeutung erhält. Hierzu können die digitalen Erinnerungen einen erheblichen Beitrag leisten. Anders sieht es meiner Meinung nach bei »digitalen Zombies« aus.
Was meinen Sie damit?
In meiner Arbeit beziehe ich mich auf das »Uncanny Valley«-Phänomen, einen Begriff des japanischen Roboteringenieurs Masahiro Mori, der die Reaktion von Leuten auf Roboter beschreibt, die den Menschen zu ähnlich sind. Zu Beginn meiner Forschung vor etwa vier Jahren fanden die Befragten es extrem gruselig, wenn Profile von Toten in ihren digitalen Netzwerken aufpoppten. Heute haben wir uns daran weitgehend gewöhnt. Aber wenn es darum geht, Verstorbene virtuell zu reanimieren – etwa in Form von Chatbots – ist die Reaktion eine ganz andere. Diese »digitalen Zombies« fallen im Gegensatz zu den »digitalen Geistern« in Social Networks noch ganz deutlich in das »Uncanny Valley«. Sie beeinträchtigen den Trauerprozess.
Glauben Sie, dass sich das ändern wird?
Auf jeden Fall. Schauen Sie nur, wie schnell wir uns an die »digitalen Geister« gewöhnt haben! Deshalb braucht es so schnell wie möglich freiwillige und gesetzliche Regeln für die Gestaltung solcher Angebote. Dazu möchte ich noch etwas loswerden: Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich mit vielen Anbietern von Digital Afterlife Services gesprochen und kein Einziger von ihnen hat sein Unternehmen nur des Profits wegen gegründet. Sie alle haben eine persönliche Motivation für ihr Tun. Es ist also nicht so, als würden sie sich nicht mit Trauer auskennen.