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Stress im Anmarsch? Deadline droht? 
Am besten erst mal raus!

Ausgerechnet »Draußen gehen« ist die zentrale, allereinfachste Selbsthilfemethode für den Kreativalltag. Eine Leseprobe.

»Draußen gehen«, erschienen beim Verlag Hermann Schmidt, illustriert von Franca Neuburg

 Es passiert dauernd, obwohl wir es lieber vermeiden würden: Kreative Menschen rutschen immer wieder in Phasen von so genanntem Distress hinein. Distress ist das Gegenteil vom guten Stress, den wir auch als Eustress oder Flow kennen. Beim Distress werden wir immer langsamer statt schneller. Wir tasten mühsam nach Ideen, die uns doch eigentlich zufliegen müssten. Dabei sacken wir vor dem Bildschirm zusammen wie ein halbvoller Müllsack und klagen über Rücken- und Nackenschmerzen. Und was tun wird dann, um die Deadline doch noch zu schaffen, die Präsentation endlich fertig zu kriegen? Wie alle, die vom Distress gebeutelt werden, tun wir mehr vom Gleichen: Wir reagieren auf den Druck von außen mit noch mehr Druck nach innen; wir streichen die Pausen, arbeiten die halbe Nacht durch, binden uns quasi am Schreibtisch fest.

Am Ende geht das dann meist irgendwie gut, aber: Der negative Distress engt die Lösungsfindung ein. Die Qualität leidet. Wir arbeiten unter unseren Möglichkeiten und geraten, wenn es schlecht läuft, in eine Abwärtsspirale. Endstation Burn-out.

Illustration: Franca Neuburg

Ein einfaches Mittel gegen Stress

So sehr solche Rituale der Selbstüberforderung auch zum Kreativalltag gehören mögen: Auf Dauer gehen sie an die Substanz. Wie aber können wir das negative Muster durchbrechen? Wir brauchen dazu eine Methode, die jederzeit verfügbar ist, keine Vorbereitung erfordert, keine technische Ausrüstung. Und sie muss sofort wirken.

Diese Anforderungen sind gar nicht so einfach zu erfüllen. Yoga und Sport zum Beispiel wirken wunderbar, brauchen aber etwas Zeit, ein Minimum an Ausrüstung (Matte, Laufschuhe etc.) und können nicht sofort und in jedem Büro angewendet werden. Eins aber können wir jederzeit, überall und sofort: rausgehen. Die Methode „Draußen gehen“ besteht darin, alles liegen und stehen zu lassen, das Smartphone auszuschalten und rauszugehen. Vor die Tür – und dann weiter. Kontinuierlich und zügig gehen für mindestens 20 bis 30 Minuten, möglichst mehr.

Gehen abseits großer Straßen ist hier gemeint – möglichst dahin, wo es auch Grün oder Parks gibt. Aber auch Wohn- und Nebenstraßen sind okay. Hauptsache, wir bleiben in Bewegung und setzen zügig Schritt vor Schritt. Sogar für Kreative, die in Innenstädten arbeiten, ist das ohne Vorbereitung machbar. Vom Home Office aus ist es oft noch viel einfacher. Meist sind es nur ein paar Meter bis zur nächsten Grünanlage oder sogar zum Wald. Also los! Statt sich müde und ideenarm am Bildschirm festzuketten, heißt die Devise: Raus! Gehen!

Illustration: Franca Neuburg

Warum Gehen so hilfreich ist

Kontinuierliches Gehen ordnet das Denken neu, schafft Übersicht, lässt innere Ruhe einkehren, und zwar verlässlich. Es ist inzwischen gut erforscht, warum unser Hirn so reagiert: Gehen knüpft an sehr alte Bewegungsmuster aus der menschlichen Entwicklungsgeschichte an. Es ist eine Bewegungsart, die komplexer ist, als sie aussieht. Deshalb erfordert sie Aufmerksamkeit vom Hirn, und zwar gerade soviel, dass festgefahrene Denkschleifen unterbrochen werden.

Zudem beginnen Körper und Geist unmerklich einen Dialog mit der Umgebung: der Natur oder der Stadtlandschaft. Alle Sinne nehmen Informationen über die Situation auf, in der wir gerade gehen: Lufttemperatur, Wind, Hindernisse, die Wegoberfläche, die sich mit jedem Schritt wandelnden Perspektiven… Unsere Wahrnehmung vertieft sich und wir reagieren unmerklich auf all diese Eindrücke.

Der Ideenfluss kommt wieder in Gang

Beides zusammen: die innere Entspannung und der Dialog mit der Umgebung bewirken jene meditative Grundstimmung beim Gehen, von der Wanderer berichten. Bei großen, mehrtägigen Touren – vielleicht sogar auf Pilgerwegen – stellen sich intensive Eindrücke und eine ganz besondere Tiefenentspannung ein. Die Wandernden finden zu sich selbst. Aber auch schon bei kleinen Gängen rund ums Büro beginnt die Methode „Draußen gehen“ zu wirken. Zurück am Bildschirm öffnen sich Einsichten, erschließen sich Lösungen, ist wieder die nötige Energie da, um vertrackte Probleme anzugehen.

Also noch mal: Wenn es eng wird, handeln Sie paradox, gehen Sie raus. Kommen Sie zurück, wenn Sie spüren, dass Ihr Denken sich gelockert hat und der Körper sich von innen her aufgerichtet hat. Dann müssen Sie sich um den Ideenfluss und die nächste Deadline deutlich weniger Sorgen machen. Auch nicht um ihre langfristige kreative Leistungsfähigkeit.

Dr. Christian Sauer ist Coach und Berater für Kreative und Medienprofis in Hamburg. Sein neues Buch »Draußen gehen. Inspiration und Gelassenheit im Dialog mit der Natur« ist soeben im Verlag Herrmann Schmidt in Mainz erschienen – wunderschön illustriert von Franca Neuburg.

 

Christian Sauer:
Draußen gehen. Inspiration und Gelassenheit im Dialog mit der Natur
176 Seiten
mit 20 farbigen Illustrationen von Franca Neuburg
Format 14,3 x 23,1 cm
Leinenband, Flexcover mit rundem Rücken
29,80 Euro
ISBN 978-3-87439-928-9

Dieser Beitrag ist erstmals am 11. September 2019 erschienen.

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