Offene Briefe und kollektive Kampagnen werden nicht selten zum Rohrkrepierer. Unser Kolumnist Jürgen Siebert nennt drei Beispiele …
1. Als Xavier Naidoo wegen rechtsradikaler Äußerungen 2015 von der ARD vom Eurovision Song Contest ausgeladen wurde, stellten sich 121 Künstler:innen in einer »FAZ«-Anzeige als »Menschen für Xavier Naidoo« hinter den Musiker; sieben Jahre später will – außer Smudo – keine/r der Unterzeichnenden in der ZDF-Doku »Die Spur« etwas zum Fall Naidoo sagen.
2. Unter dem Hashtag #allesdichtmachen kommentierten 52 Filmschaffende im April 2021 mit ironisch gemeinten Videos die Corona-Politik der Regierung und die Berichterstattung der Medien; nach heftigen Debatten hat die Hälfte ihr Video wieder löschen lassen.
3. Am 29. April warnen Alice Schwarzer und 27 Künstler:innen in einem offenen Brief an Kanzler Scholz davor, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern; auch in diesem Fall: viel Aufregung, wenig Wirkung, öffentliche Rückzieher.
Warum lösen die Kampagnen Prominenter so viel Empörung aus? Offene Briefe sind das falsche Format für Probleme, die differenziert diskutiert werden sollten. Es gibt keine Patentlösung für Konflikte, deren Spielregeln sich ständig ändern und die fortlaufend neu zu bewerten sind. Und: je mehr unterschreiben, umso enger der Kompromiss. Dabei provozieren die Namen mancher Mitwirkender mehr als der Inhalt. Den Hass auf die streitsüchtigste Person bekommen alle ab, weil sie im selben Boot sitzen.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Menschen allergisch auf den Zusammenschluss von Personen reagieren, die sowieso schon starke Aufmerksamkeit genießen. Tatsächlich könnte jede und jeder der Unterzeichnenden mit einem individuellen Statement mehr erreichen als durch das Signieren eines Konsensschreibens. Die Promis machen es sich leicht und geraten in den Verdacht einer kollektiven »Werbung in eigener Sache«.
Aus kommunikativer Sicht sind offene Briefe Selbstläufer. Wer auf der Liste steht, wird Teil des Diskurses. Man rückt in die Nähe anderer Prominenter und profitiert – wenn alles gut läuft – von deren kulturellem Marktwert. Eine Unterschrift ebnet den Weg zu Interviews und Talkshows. Die Medien nehmen die Debatte dankbar an, weil sie über Tage attraktiven Content liefert.
Die »Königsklasse« aber sei, so Johannes Franzen im Blog Kultur & Kontroverse, der öffentliche Rückzieher, was vor allem zeige, wie wenig Gedanken sich manche Berühmtheit über die Wirkung ihres Namens auf einer Unterschriftenliste macht. Eine Liste schützt auch nicht vor harten Angriffen, ganz im Gegenteil: In den sozialen Netzen findet sich für jeden Namen eine Horde von Widersacher:innen.
Wahrscheinlich ist es der Fluch der Kürze unserer Botschaften, der uns dazu verdammt, Meinungen nicht zusammenzubringen, sondern auseinanderzudividieren. Mit 280 Zeichen lässt sich keine abwägende Antwort formulieren. Selbst politische Talkshows geben sich kaum noch Mühe, eine Debatte zu starten, weil sie ihren Gästen nur noch Antworten in der Länge eines Tweets erlauben, um sogleich die nächste 280-Zeichen-These in den Raum zu stellen. Keine Abwägung mehr möglich.
Was Olaf Scholz oft vorgeworfen wird – Zögerlichkeit, schwergängige Sätze –, beschreibt eigentlich das, was eine gute Debatte braucht: Zeit zum Nachdenken und den Austausch mit anderen.
Wir alle, auch die professionellen Kommunikatorinnen und Kommunikatoren, haben die Fähigkeit verloren, miteinander zu diskutieren. Stattdessen etikettieren wir Menschen, die für den Frieden kämpfen, voreilig als »Putinversteher«. Wir engen ein, umzäunen, um Personen zu isolieren und ihnen zu unterstellen, keine eigene Meinung zu haben. Und wenn doch, dürfen sie diese nicht behalten. Sanktionieren und Verdächtigen ist keine Kommunikation, sondern der Versuch, eine Diskussion zu ersticken. Lasst uns uns schnell frei machen davon. Es ist eine kommunikative Sackgasse.