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Das Wissen von vielen

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mmer zum Erscheinen der aktuellen Printausgabe der PAGE: »Die Fundstücke« von Jürgen Siebert. Freuen Sie sich über kühne Kommentare zu Trends, Entwicklungen, Ereignissen und dem ganz normalen Alltagswahnsinn eines Kreativen … Heute: »Das Internet tickt anders«

Bekanntlich gehöre ich nicht zu der Sorte Mensch, die glaubt, alles wer­de schlechter. Erst recht nicht, wenn es ums Internet geht. Denn dieses hat mir zum Beispiel den Weg zu einer aktuel­len, kostenlosen Enzyklopädie ge­eb­net, die in gedruckter Form einen teu­ren Regalmeter für sich beanspruchen würde. Mei­ne Briefmarken drucke ich selbst aus dem Netz, alte CDs und Unter­haltungselektronik verkaufe ich nicht auf Flohmärkten, sondern über Amazon oder eBay, neue Mu­sik landet auf Festplatten und wurde nie zuvor besser gefunden. Alles ein­facher, bil­liger, schnel­ler, nachhaltiger.

Mitte Mai führte ich auf der NEXT-Konferenz in Berlin kurz hintereinander zwei Gespräche mit Online-Unterneh­mern, die meine optimistische Grund­­einstellung ins Wanken bringen woll­ten. Der Erste, ein bis heute un­ver­ges­sener Dotcom-Glücksritter aus Hamburg, malte den Teufel in Form von Facebook an die Wand. Er glaubt, dass das Internet längst im Besitz von Mark Zuckerberg sei und dieser es mehrere Jahrzehnte beherrschen werde. Mein Einwand, dass die Erfahrungen eines reifen Unternehmers gegen diese stei­le These sprächen und ich die zurückliegenden Industrie- und Technologiejahre vielmehr als Sinuskurven wahrgenommen hätte, ließ er nicht gelten: »Das Internet tickt anders.«

Der Zweite, langjähriger »Ent­re­pre­neur with passion for mobile inno­va­tion«, auch aus Hamburg, ent­pupp­te sich als Verfechter der Schirr­mach­er’schen Payback-Theorie: Alles wird immer mehr und immer schneller, wir Menschen sind überfordert, und unser Denken verändert sich. Ich dagegen: Un­ser Gehirn ist unersättlich und begrüßt alle Kanäle, die es auf Trab halten. Wenn dazu noch eine Belohnung in Form von Aufmerksamkeit oder Social-Media-Bienchen winkt, ist dies der gesündeste Stress, den ein Mensch erleben kann. Kam nicht so gut an bei meinem Gegenüber …

Zum Glück stand mir noch die NEXT-Abschlussrede bevor. Der US-ameri­ka­ni­sche Publizist und Philosoph David Wein­ber­ger, Mitautor des bekann­ten Cluetrain-Manifests, sprach über sein aktu­elles Lieblingsthema: die Neuor­ganisa­tion des Wissens durch das Internet. Sein Buch dazu heißt »Too Big to Know« mit dem rekordverdächti­gen Untertitel: »Rethinking Knowledge, Now That the Facts Aren’t the Facts, Experts Are Everywhere, and the Smar­test Person in the Room Is the Room«. Zu Deutsch etwa: Das Wissen überdenken, jetzt, wo die Fakten nicht mehr die Fakten sind, überall Experten lauern und der Clever­ste im Raum der Raum selbst ist.

Weinberger feiert den Hyperlink als die im wahrsten Sinne des Wortes weg­weisende Schaltstelle des Wissens. Dabei ist er sich durchaus bewusst, dass Verlinkung nur eine Technik ist und nicht automatisch für redaktionelle Qua­lität bürgt. Doch seine Devise lautet: »Weil vielen alles erlaubt ist, wird das System fruchtbar.« Er stellte als Beispiel die im Februar 2008 gestartete Plattform http://eol.org vor, die Encyclopedia of Life, mit Texten und Bil­dern aller Tier- und Pflanzenarten. An dem Projekt sind derzeit fünf bedeutende Institute beteiligt, darunter die Harvard University, das Field Museum in Chicago und der Missouri Botanical Garden. Aber auch die von Lai­en betreuten Wissensportale wie http://stackoverflow.com oder https://github.com hält der Internetexperte für frucht­bare Entwicklungen. Von den Initiato­ren solcher Plattformen könnten wir uns vier positive Trends abschauen: Bescheidenheit, Großzügigkeit, Annäherung sowie die Bedeutung des öf­fent­li­chen Lernens. Überhaupt: »Bildung soll­te in der Öffentlichkeit stattfinden«, so Weinbergers Wunsch für die kommenden Jahre. Ich glaube ja, es ist mehr als ein Wunsch – es ist unsere Zukunft.

Auch die öffentlich vergebenen Tags auf Flickr sieht David Weinberger als Be­reicherung. Zum Beweis warf er, ge­mein­sam mit dem Publikum, einen Blick auf die rund 60 Schlagwörter ei­nes Fotos, das die Library of Congress seit Januar 2008 über Flickr der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt hat. Es zeigt eine Arbeiterin 1942 in einer Flug­zeugfabrik in Burbank, Kaliforni­en. Unter den Tags sind Hinweise zur Frisur der Abgebildeten (coiff), zur In­dus­trie­kulturikone Rosie the Riveter oder zum Kleid der Arbeiterin (floral dress). »Vie­le Begriffe erscheinen im ersten Moment weit hergeholt, aber sie sind sinn­voll, weil viele Menschen unter­schied­liche Assoziationen beitragen und die Verschlagwortung am Ende brei­ter sein wird als die aus einer Hand oder von einem Bildredakteur.« Man fin­det diese Fotos heute viel schneller als früher in den aufwendig ver­schlag­worteten Schubladen der Bibliothek.

Allen Menschen, die sich von der Un­übersichtlichkeit des Netzes überfordert fühlen, lege ich Weinbergers Schlusswort ans Herz: »Messiness scales meaning«, was sich frei vielleicht mit »Unordnung transportiert Bedeutung« übersetzen lässt.

Jeder kann diesem Foto aus der US-Kongressbibliothek auf Flickr (www.flickr.com/photos/library_of_con
gress/2179930812/) Schlag­wörter hinzu­fügen – mit dem Ergebnis, dass mehr Mitwirken­­de mehr Details beisteuern und so den dokumen­tarischen Wert des Bildes steigern

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