Jürgen Siebert zieht ein Resümee nach 30 Jahren PAGE.
Anlässlich des 30-jährigen PAGE-Jubiläums möchte ich dem Wesen industrieller Evolution auf die Spur kommen. Es geht um Sieger und Verlierer, um Visionäre und Ewiggestrige – und um die Frage: Wie kann ein Magazin für Desktop-Publishing 30 Jahre alt werden, wo es doch gar kein Desktop-Publishing mehr gibt, ja Drucksachen dem Untergang geweiht sind?
Wichtig: Diesen Text schreibe ich nicht als Mitwirkender, sondern als Leser von PAGE. Dazu muss ich kurz erläutern, wie die Texte für diese Kolumne ins Heft gelangen. Gesprächen entnehme ich mitunter, dass man mich an einem Schreibtisch in den Hamburger Redaktionsräumen sitzen wähnt. Dem ist nicht so. Ich lebe und arbeite in Berlin. Seit 25 Jahren. Und seit rund 20 Jahren habe ich die PAGE-Redaktion nicht mehr besucht. Meine Beiträge fliegen digital in die Redaktion, Mitte der 1990er Jahre noch auf Diskette, danach per Mail. Mein 30-Jahre-PAGE-Zeitstrahl sieht so aus:
Diese Vorbemerkungen helfen zu verstehen, warum ich hier das ein oder andere Kompliment gegenüber PAGE äußern kann, ohne mir damit selbst auf die Schultern zu klopfen. Tatsächlich hatte ich in den letzten zwei Jahrzehnten keinen Einfluss auf das Tagesgeschäft des von uns allen so geschätzten Magazins.
Im Herbst 1986 war die Mitgründung von PAGE zugleich mein Start ins Berufsleben. Dabei kamen zwei spannende Umstände zusammen, deren Tragweite ich erst in den folgenden Jahren ganz verstand. Zum einen wurde gerade die Druckvorstufe umgekrempelt, zum anderen hatten wir mit PAGE die einmalige Gelegenheit, zu praktizieren, was wir predigten. In den USA nennt man das »dogfooding« (= »Eat your own dog food«). Die Seitengestaltung unseres Hefts entstand von der ersten Ausgabe an am Computer. Oft nutzten wir die neu erschienenen Softwares einen Tag, nachdem wir die Rezension darüber geschrieben hatten.
Nach Erscheinen der Erstausgabe 1986 erlebte ich auf einer Büromesse in Köln, wie eine etablierte Industrie mit neuen technischen Herausforderungen umgeht. Getragen vom Optimismus einer leichtfüßigen neuen Art der Seitengestaltung, kassierte ich an den Ständen etablierter »Dokumentverarbeiter« wie Rank Xerox, Berthold oder Nixdorf ein müdes Lächeln. Sie nannten unsere Tools »Micky-Maus-Technik« und die Ergebnisse seien bloßer »Firlefanz«.
Die ersten PAGE-Ausgaben sahen wirklich bescheiden aus. Nur warum erinnerten sich die alten Hasen nicht an die ersten Autos, die ersten Fernseher, die Musikkassette: Jede neue Technologie startet bescheiden. Doch wenn sie nicht nach zwölf Monaten verschwunden ist, trägt sie eine Qualität in sich, die das Alte bald vergessen lässt. Eine solche versteckte Qualität zu erkennen zeichnet erfolgreiche Unternehmer aus.
Als ich die Kölner Messe vier Jahre später erneut besuchte, waren viele der kritisch eingestellten Firmen gar nicht mehr mit Stand vertreten. Einige ihrer Bosse hatten die Fronten gewechselt, andere ritten mit ihrer Arroganz das nächste Unternehmen in eine Sackgasse. So was geht sehr schnell, wenn man keine Ahnung vom eigenen Hundefutter hat, und erst recht, wenn man die geänderten Lebensumstände der Hunde ignoriert.
Wie kaum ein anderer Wirtschaftszweig erfindet sich die grafische Industrie ständig neu. Auch das habe ich bei PAGE gelernt: Meist kommen die Erfinder von der Seite, nicht aus der eigenen Branche. Ein Uhrmacher namens Ottmar Mergenthaler hat 1889 mit der Linotype-Zeilensetzmachine die Satzindustrie in ein neues Jahrhundert katapultiert. Der Elektrotechniker Rudolf Hell erfand 1965 den elektronischen Schriftsatz mit digitaler Speicherung. Steve Jobs krempelte gleich mehrere Industrien um, nach der Druckvorstufe die Musikbranche und danach die Mobiltelefonie.
Zurück zur Eingangsfrage: Warum gibt es dieses Magazin noch? PAGE hat sich mit dem Wandel der visuellen Kommunikation Flexibilität antrainiert und ist zum Wissensvermittler geworden, vor allem durch die Neugier der Redakteurinnen und Redakteure. Heute ist das gedruckte Heft nur ein Kanal für die Verbreitung von Wissen. Bücher, Seminare, die Website und andere Formate sind hinzugekommen. Die Agilität und die Begeisterungsfähigkeit der Redaktion ist ungebrochen, wie am ersten Tag. Und ich weiß, wovon ich rede.
Keiner kann heute sagen, wie PAGE in 30 Jahren aussehen wird. Doch was zu tun ist, damit es PAGE 2046 noch gibt, lässt sich in fünf Punkten zusammenfassen: wissbegierig bleiben, auf die Leser hören, den Wandel der Medien verfolgen, mitmischen und auf den Wettbewerb links und rechts achten.