Politiker sollten wie Kreative denken, meint unser Kolumnist Jürgen Siebert
Deutschland hat’s erwischt. In der Politik, in der Wirtschaft, im Fußball. Eine zerschossene Nation. Während uns einst die Devise »Wir schaffen das!« antrieb, sind wir inzwischen paralysiert vom »Weiter so«. Das Land ist verunsichert, es kommt nicht mehr richtig vom Fleck. In den sozialen Medien ergötzen sie sich am Untergang, weil es leichter ist, etwas zu zerschlagen, als Neues zu entwerfen. Was ist hier eigentlich los?
Wer in der Design- und Kommunikationsindustrie tätig ist, versteht die Welt nicht mehr. Wir alle wissen doch, dass sich Produkte und Dienstleistungen nur dann erfolgreich am Markt behaupten, wenn permanent an ihnen gearbeitet wird. Dies gilt umso mehr, je dynamischer die Wirtschaft ist. Beharren ist keine Option. Unsere wichtigsten Grundregeln: Agieren statt reagieren, innovativ sein und auf die Kunden hören. Mit diesem simplen Kanon könnte man übrigens auch erfolgreich Politik machen.
Doch in der politischen Landschaft und selbst in Teilen der Wirtschaft gelten solche Leitlinien offenbar nichts. Man denke nur an den Ausbau der Digitalisierung, den Klimawandel, den Dieselskandal, die Verkehrswende, den Asylstreit . . . Selbst die schönste Nebensache der Welt, der Fußball, funktioniert nicht mehr in Schland. Stattdessen macht sich in der Gesellschaft schlechte Laune breit, trotz positiver wirtschaftlicher Gesamtlage, trotz der niedrigsten Zahl an Straftaten seit der Wiedervereinigung. Mal schlägt die Frustration der Bürger hasserfüllt auf, von rechts wie links, mal äußert sie sich in Form von Gleichgültigkeit, Mutlosigkeit oder Angst. Deutschland ist ein Angstland geworden. Angst vor der Vergangenheit, Angst vor Fremden, Angst vor der Zukunft.
»Bloß keine Veränderung, bloß keine unangenehmen Fragen oder Diskussionen um Inhalte, Prinzipien, Werte«, sagen sich die Angsthasen in Führungspositionen. Die regierenden Volksparteien liefern keine Antworten, die Opposition stellt keine Fragen. Die Rechten wenden sich mit Egoismus, Fremdenfeindlichkeit und Abschottung gegen eine Welt, die ihnen zunehmend unbeherrschbar und gefährlich erscheint.
Dabei wäre es an der Zeit, ein paar wichtige Fragen zu diskutieren. Gibt es andere Konzepte von Eigentum? Gibt es Alternativen zum Profitstreben? Wie lässt sich die Finanzindustrie regulieren, wie die Macht der Internetkonzerne? Wie könnte eine dezentrale Energieversorgung aussehen? Was kommt nach dem Ende des Tiki-Taka-Kurzpass-Fußballs?
Das Neue findet sich nicht in Anschauungen, es findet sich in Ideen.
Die Zerrissenheit der Welt durch Ausgrenzung auflösen zu wollen ist hoffnungslos naiv. Es ist die Sehnsucht nach dem Auslöschen von Widersprüchen und Konflikten. Nach Erlösung von der Realität. Das ist reaktionär und utopisch zugleich. Es gibt keine Befreiung. Aber es gibt die Freiheit. Sie zu gestalten strengt an und hat erst mal nichts mit Erlösung zu tun.
Tatsächlich sind es die Widersprüche, die uns Kreative antreiben. Nichts wäre für Designer und Denker langweiliger als eine geordnete Welt. Selbst in den Naturwissenschaften hat Ordnung keinen guten Ruf. In der Thermodynamik wird der vollständige Temperaturausgleich zwischen allen Körpern als »Wärmetod« bezeichnet. In einer solchen Welt würde sich nichts mehr bewegen, es wäre kein Leben mehr möglich.
Wenn wir also etwas Neues schaffen oder Bestehendes verbessern wollen, sollten wir uns nicht mit dem beschäftigen, was immer schon getan wurde, sondern mit dem, was jetzt zu tun ist. Wir müssen Möglichkeiten erkennen, Chancen ergreifen und Herausforderungen annehmen. Warten wir nicht auf die beste Gelegenheit, sondern schaffen wir sie selbst. Mindestens im Job, vielleicht auch im Privaten, unbedingt in der politischen Diskussion. Do it, try it, fix it!