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Typografie und KI: Gibt es praktische KI-Tools?

Nützliche KI-Tools fürs Typedesign gibt es bisher kaum, dafür aber erste mit künstlicher Intelligenz erzeugte Schriften und Typoillustrationen. Wir zeigen spannende Cases.

Innerhalb von Sekunden mit KI eine komplette Schrift generieren – für manche Typedesigner:innen, die Monate, wenn nicht Jahre mit dem Feintuning ihres Alphabets verbracht haben, ein Traum. Für andere eher ein Alptraum, denn sie befürchten, ihr Beruf könnte obsolet werden. Für handwerkli­che Tätigkeiten wie Kerning, Interpolation oder auch das Ergänzen von Glyphen in einem Zeichensatz kann KI-Unterstützung sinnvoll sein – massentaugliche Tools sind allerdings Mangelware.

Terrance Weinzierl, Creative Type Director bei Monotype, arbeitet derzeit an einem Tool zur Mischung von Schrift. Bislang kann man dort mit 500 Fonts 7000 mögliche Paarungen erzeugen. Dabei stellt die KI immer eine Sans Serif und eine Schrift mit Serifen zusammen. »Für diese erste Version haben wir harmonische Paare aus serifenlosen und serifenbetonten Schriften in normaler oder mittlerer Schriftstärke ausgewählt«, sagt Weinzierl.

Schriften mischen mit dem Font Pairing Generator
Bei Monotypes KI-Tool kann man eine Schrift auswählen, diese mit einem Klick aufs Schloss einloggen und sich dann mit »Randomize« dazu passende Fonts anzeigen lassen. Oder der Font Pairing Generator schlägt ausgesuchte Paare vor. Wenn einem ein Paar gefällt, kann man es mit dem Daumen-hoch-Icon speichern.

 

Der Font Pairing Generator soll kontinuierlich erweitert werden – und dann darf es auch mal wilder zugehen. »Künftig sollen mehr stilistische Kontraste dazukommen. Aber je weiter man sich von der Harmonie entfernt, desto subjektiver wird die Paarung von Fonts«, beobachtet der Type Director. Gar nicht so leicht war die Priorisierung der Gestaltungskriterien. Ist die x-Höhe wichtiger oder die Struktur der Buchstaben? Am herausforderndsten aber fand Terrance Weinzierl seine Rolle als Richter. »Die Beurteilung der KI-Paare und die Entscheidung dafür oder dagegen hat sehr viel Zeit gekostet. Einige Paare sind offensichtlich gut oder schlecht, aber viele sind einfach nur okay.«

Mit StyleGAN2 Schriften erzeugen

Aber kann KI auch eine komplette Schrift entwickeln? »Klar«, sagt Daniel Wenzel. Der 27-Jährige, der in New York lebt und als Senior Art Director für das Branding- und Grafikdesignstudio DIA arbeitet, experimentierte schon 2019 in seiner Bachelorarbeit an der HTWG Konstanz mit automatisch generierten Schriften. Binnen drei Monaten erzeugte er mehr als 100 Typedesigns mithilfe von Automatisierung, einige bereits mit KI. Allerdings waren die KI-Experimente zu diesem Zeitpunkt auf 64-Pixel-Bilddaten begrenzt (https://wenzeldaniel.com/w_atd.php). Etwa ein halbes Jahr später erschien das generative Netzwerk StyleGAN2, das ganz andere Möglichkeiten bot als das von Daniel Wenzel zusammengebaute System. Gemeinsam mit seinem Kommilitonen Jean Böhm, der in seiner Masterarbeit an der Hochschule Mainz mit vektorbasierter KI experimentiert hatte (https://jeanboehm.de/work/pathfinder), wollte er versuchen, mit StyleGAN2 Schriften zu entwickeln. Die beiden trainierten die KI mit einem Datenset aus 6359 Schriften – das Ergebnis waren absolut anwendbare Alphabete. »Der Output war zwar qualitativ überzeugend, die Fonts aber nichts Besonderes«, so Wenzel.

Experimentelle Buchstaben mit StyleGAN2

Das Projekt stieß auf so großes Interesse, dass sie beschlossen, es weiterzuführen. »Viele wollten die Fonts hauptsächlich deshalb verwenden, weil sie KI-generiert sind, außerdem kam der Pixelcharakter der Fonts gut an«, berichtet Daniel Wenzel. Aus Tausen­den von der KI ausgespuckten Varianten wählten sie zehn aus, wandelten die Pixelbilder in Vektoren um und exportierten sie als OpenType-Font. Unti­tled AI heißt die Schrift mit zehn Variationen. »Die zehn Styles tra­gen als Namen ihre Seeds aus dem Generierungsprozess«, so Wenzel. Ihre eigentliche Inten­tion bei dem Projekt war es, zu zeigen, dass KI in Bezug aufs Hand­werkliche zwar bereits gleichauf oder uns sogar über­legen ist, aber dass es ohne mensch­li­ches Kuratieren nicht geht. »Wir konnten die KI nahezu perfekte Fonts machen lassen«, sagen Da­niel Wenzel und Jean Böhm. »Solche Schriften gibt es aber mehr als genug, das finden wir nicht weiter spannend.« Interessanter sei da schon, auf die Zwischenergebnisse zu schauen – dort entstünden manch­mal coole, inspirierende Formen.

Um spannende Ergebnisse zu bekommen, muss man die KI herausfordern. In diesem Projekt fütterte Daniel Wenzel StyleGAN2mit dem kompletten Instagram-Account von »36 Days of Type« ( www.36daysoftype.com). Aus den 10 173 Bildern experimenteller Buchstaben erzeugte das generative Netzwerk jede Menge interessanter Lettern – eine tolle Inspirationsquelle.

Um solche »Irrläufer« zu provozieren, über­legte sich Daniel Wenzel, wie er es der KI schwerer machen könn­te. Dazu lud er den kompletten Insta­gram-­Account des Projekts »36 Days of Type« herun­ter – 10 800 Posts –, sortier­te nicht Geeignetes aus und fütterte StyleGAN2 dann mit einem Datenset von 10 173 Bildern äußerst experi­menteller Buchstaben. Das System lieferte jede Menge interessanter Lettern, die sich wunderbar als Inspirationsquelle für eine Schrift oder ein Artwork nutzen lassen. »Anders als eine KI können wir Menschen etwas objektiv Schlechtes subjektiv als gut bewerten. Objektiv betrachtet waren viele der Buchstaben, die StyleGAN2 aus ›36 Days of Type‹ generierte, eher schlecht. Aber ich kann entscheiden, eine Form interessant oder nützlich zu finden und diese für meine Zwecke weiterzuentwickeln.«

KI-generierter Variable Font

Im Wiener Designstudio Process begann man schon 2018, sich mit dem Thema Typo und KI zu beschäfti­gen. Für die Identity der Hauptausstellung der Vienna Biennale 2019 programmierten die Kreativen ein generati­ves Netzwerk, das Emojis und Schriften für die Headlines erzeugte. »Wir wollten einfach zeigen, wie KI-Typo funktioniert«, sagt Martin Grödl, der Pro­cess zusammen mit Moritz Resl gegründet hat. »Das war Kindergartenlevel, die KI nahm das gesam­melte Wissen, mit dem wir sie gefüttert hatten, kopierte Stile und produzierte dann Pixelbilder einer Schrift.« Und an dieser Arbeitsweise hat sich zumin­dest im Bereich Typografie bis heute nicht viel ge­ändert. »Avanciertere Tools gibt es für Vektorfonts noch nicht. Bilder und Videos sind pixelbasiert, das Thema Vektorgrafik ist eher eine Nische. Es zahlt sich für die Techkonzerne wohl nicht aus, hier etwas zu entwickeln«, sagt Moritz Resl.

AI Variable Font mit selbst trainiertem Netzwerk
Als Grundlage des AIfonts von Process diente ein selbst trainiertes generatives Netzwerk. Die von der KI erzeugten Pixelbilder der Schrift wandelten Martin Grödl und Moritz Resl in Vektoren um und schufen aus ihnen einen Variable Font, dessen Spektrum von unleserlich bis gut lesbar reicht. Ähnlich wie bei FutureFonts kann man den AIfont schon jetzt im Betastadium günstiger kaufen, die folgenden Updates gibt es dann kostenlos.

Da die beiden aus ihrem Experiment aber unbedingt einen KI-generierten Font produzieren woll­ten, mussten sie einen Umweg gehen und aus den Pixelbildern vektorbasierte Daten machen. Dafür verwendeten sie ein selbst geschriebenes Script sowie die Python-Bibliothek FontTools von Just van Rossum. Das Ergebnis ist ein Variable Font namens AIfont. »Mit dem Variable-Font-Slider können An­wen­der:innen ganz wunderbar alle KI-generierten Varianten sehen«, erklärt Martin Grödl. »In unse­rem Fall sind das komplett zerstörte Buchstaben ganz links, die nach rechts hin immer besser werden, weil die KI dazulernt.« Das Interesse am AIfont ist groß. »Der Stil der Schrift – einerseits mechanisch gemacht, andererseits unperfekt und ein bisschen wonky – trifft den momentanen Geschmack«, sagt Moritz Resl. »Das ist keine perfekt gekernte Schrift, aber wenn man nach etwas Ausdrucksstarkem sucht, ist sie sehr interessant.«

Text-zu-Bild-Tools für Buchstaben nutzen

Neben Experimenten mit KI-generierten Fonts probieren Kreative momentan aus, was sich mit Text-to-Image-Modellen wie Midjourney, Stable Diffu­si­on oder Dall•E typografisch anstellen lässt. Oder auch mit Adobe Firefly. Hier kann man seit Kurzem Buchstaben mit per Prompt erzeugten Layern versehen, allerdings stehen bislang lediglich zwölf Schriften zur Auswahl. Gemeinsam ist all diesen Tools, dass sie für ganze Wörter nicht zu gebrauchen sind. Weil die KI (noch) nicht versteht, was Schrift oder auch nur ein A eigentlich ist, kreiert sie Formen, die zwar an Buchstaben erinnern, aber statt Wörtern nichts als Kauderwelsch erzeugen. Was wiederum viel Inspiration liefern kann…

Die Berliner Designerin Anna Fay vermutet, dass die Datensätze noch nicht auf Typografie ausgerichtet und damit nicht genau genug sind. »Ich habe es getestet: Erstellt man Datensätze konkret mit Schrift, kann man der KI durchaus das Schreiben beibringen.« Die 28-Jährige kam 2020 im Rahmen ihrer Bachelorarbeit an der Hochschule Mainz mit KI-Tools in Berührung. Ursprünglich hatte Anna Fay gar nicht vorgehabt, mit künstlicher Intelligenz zu arbeiten, son­dern wollte Zustände visualisieren und fließen­de Übergänge schaffen. Dabei stieß sie auf StyleGAN2 und die Möglichkeit, mit Datensätzen Visuals zu erstellen. Gerade die kuratorischen Aspekte fand sie dabei sehr spannend und steigt jetzt in ihrer Ma­s­terarbeit an der weißensee kunsthochschule Berlin noch einmal tiefer in das Thema ein. Sie untersucht, wie sich mit Text-to-Image-Modellen Schriften generieren lassen. Darüber hinaus ist sie seit drei Jah­ren als selbstständige Motion-Designerin tätig und arbeitet jetzt auch als AI Typographer.

Anna Fays bevorzugtes Tool ist Stable Diffusion. Weil sie sich mit Coden wohlfühlt und weil es die meisten Optionen bietet, den eigenen Prozess zu ge­stalten. Für »36 Days of Type« kreierte sie mit dem Text-zu-Bild-Generator ein komplettes Alphabet, das nach 3D aussieht – die Resonanz auf Instagram war groß (@honigwespe). Mehrfach fragten Leute sie, ob man die Buchstaben auch in 3D drucken oder bauen kann. Was natürlich nicht so einfach geht, denn die Lettern sind keine 3D-Modelle, sondern lediglich KI-generierte Pixelbilder. Womit sie sich als Nächstes beschäftigen will, ist auch schon klar: Text-zu-Video. »Ich möchte mich eingehender damit auseinandersetzen, wie sich KI-Tools für experimentelle Typo­animationen nutzen lassen«, so Anna Fay.

KI-Fonts – na und?

Müssen Typedesigner:innen nun um ihre Jobs fürchten? Momentan wohl eher nicht. »Für mich ist KI ein neues, intelligentes Tool, aber ich nutze es nicht anders als Photoshop oder andere Programme in meiner Werkzeugkiste«, sagt Daniel Wenzel. »Das Handwerk, also etwa ob ich gutes Kerning mache, verliert an Relevanz. Immer wichtiger wird dagegen, dass ich die Ergebnisse der KI bewerten und meine Ideen und Visionen so beschreiben kann, dass sie versteht, was ich will.«

Typoillustrationen mit Stable Diffusion
Um Lettern wie die auf der linken Seite zu erzeugen, fängt Anna Fay beim Prompten mit der groben Form des Buchstabens an. Dann arbeitet sie viel mit Masken zur Verfeinerung. In einem sehr iterativen Prozess wird der Output zum nächsten Input – so verändert Anna Fay die Komposition und die Materialien immer weiter.

Für Anna Fay ist KI vor allem in der Anfangsphase eines Designprojekts sehr nütz­lich. »KI kann im Pro­zess der Ideenfindung bei der Generierung von Variationen und der Visualisierung verschiedener Stile unterstützen – unabhängig davon, ob das Artwork nachher KI-generiert ist.« Die Tools würden helfen, out of the box zu denken. »Etwa wenn die KI das Konzept von Buchstaben nicht kennt und dann eine seltsame Form ausspuckt, in der sich trotzdem etwas lesen lässt. Das Arbeiten mit KI lockert den Prozess auf und ermöglicht eine freiere Herangehensweise.«

Künftig werden sicher noch viel mehr KI-Schriften auf den Markt kommen – nicht wirklich ein Grund zur Besorgnis. Schließlich haben auch zigtausende kostenlose Google Fonts Kreative und Unternehmen nicht davon abgehalten, hochwertige, professionel­le Schriften zu kaufen oder sich Custom Fonts maßschneidern zu lassen. Warum sollte das bei KI-gene­rierten Fonts anders sein?

Dieser Artikel ist in PAGE 08.2023 erschienen. Die komplette Ausgabe können Sie hier runterladen.

PDF-Download: PAGE 08.2023

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