Making-of: Typografisches Storytelling mit Schriftfamilie »Arbeiter Neue«
Mit seiner Schriftfamilie Arbeiter Neue erzählt der Typedesigner Murathan Biliktü die Geschichte seines Großvaters und die vieler anderer türkischer Gastarbeiter in Deutschland.

Mit den Augen eines Gastarbeiters
Die Schriftfamilie Arbeiter Neue nimmt typische Dinge aus deutschen Fabriken der 1950ern und 1960ern auf, von denen Turhan Biliktü erzählte: Drähte, Rohre, klobige Industriemaschinen. Um sie nicht zu mechanisch wirken zu lassen, hat sie auch humanistische Details wie runde, geschwungene Linien. Schön zu sehen ist das beim S: Der obere und untere Teil ist durch etwas verbunden, das an einen Draht erinnert. Zugleich könnte dieses Etwas auch eine Nadel sein, die durch Haut sticht.
Fünf Schnitte umfasst Arbeiter Neue: Text ist der normalste, der sich kaum von einer gewöhnlichen Serifenlosen unterscheidet. Nur hin und wieder tanzen die Buchstaben aus der Reihe, das e etwa, dessen Mittelstrich an Draht erinnert, oder das J, bei dem man an versetzt aneinandergefügte Rohre denkt. Etwas wilder wird es in der Regular- und der Mono-Variante, bei denen vor allem der große Strichstärkenkontrast ins Auge fällt. Einzelne Buchstaben, etwa g oder Y, sehen aus wie lose verbundene Bauteile. Und beim Blick auf die gedrungenen, schweren Lettern des Bold-Schnitts hört man förmlich große Fabrikmaschinen arbeiten.




Like an Alien
Ganz verrückt und zugleich das Herzstück der Familie ist der fünfte Schnitt, Arbeiter Neue Abstrakt. »Hier habe ich ein gewisses extraterrestrisches Feeling hinzugefügt, als Tribut an die Aussage meines Opas, sich in Deutschland zwar wohl, aber doch wie ein Alien gefühlt zu haben«, sagt Biliktü. Die Lettern sind bis zur Unleserlichkeit abstrahiert, um die Empfindung des Anders- und Fremdseins auszudrücken. »Der Schnitt gibt wieder, wie türkische Gastarbeiter die deutsche Gesellschaft erlebt haben. Wenn sie zum Beispiel vor für sie unerklärlichen Schildern standen, weil sie weder mit der Sprache noch mit der deutschen Kultur vertraut waren.«
Die Kombination der Schnitte bietet tolles illustratives Potenzial, zum Beispiel für Poster oder Musikvideos. Murathan Biliktü würde Arbeiter Neue auch gerne in einem historischen Kontext angewendet sehen – »oder in Projekten zum Thema soziale Gerechtigkeit«, sagt er. »Das würde zu ihrer Designsprache passen, die ja dafür steht, den menschlichen Aspekt nicht zu vergessen.«




Eine eigene Foundry
Die Geschichten, die Murathan Biliktü mit seinen Fonts erzählt, sind von den Anwender:innen sicher nicht immer auf Anhieb zu entschlüsseln. Er kann aber damit leben, wenn seine Botschaft nicht sofort oder vielleicht auch gar nicht ankommt. »Einige Leute werden sich mit dem Hintergrund beschäftigen und sich davon inspirieren lassen, andere suchen einfach nach einer coolen Schrift, und auch das ist völlig in Ordnung«, so der Typedesigner, dessen Begabung für Design schon als Kind erkennbar war – bereits im Vorschulalter erkannte er alle Markenlogos in seiner Umgebung wieder.
Es folgten der Besuch einer Schule für Grafikdesign und ein Studium der visuellen Kommunikation in Istanbul. Auch seine Faszination für Typografie wurzelt in seiner Kindheit, in der er sich viel und gerne mit altertümlichen Buchstaben und Schriften beschäftigte. Aber es war die Frustration, die ihn dazu brachte, selbst Fonts zu entwerfen. »Ich wollte mich in meinem eigenen Stil ausdrücken, aber die Schriften, die mir zur Verfügung standen, schränkten mich ein.« Also beschloss Biliktü, selbst welche zu gestalten und eine eigene Foundry zu gründen: Seit Anfang dieses Jahres ist https://biliktufoundry.com online.
Fonts mit Geschichte
Sieben Schriften gibt es bei seiner Foundry Biliktu momentan, und alle haben etwas zu erzählen. Er findet es schwierig, etwas zu gestalten, bei dem es nur ums Aussehen geht. Seine Fonts sind eher Artworks mit Geschichten als reine Designtools. Beim Entwurf der Erkin zum Beispiel hörte er viel Funk und psychedelische Musik der Sixties und Seventies, vor allem des türkischen Rockmusikers Erkin Koray. »Mein Ziel war es, meine Gefühle beim Hören solch abstrakter Klänge in etwas Simples und Modernes wie Buchstaben umzuwandeln. Typedesign ist für mich die Herausforderung, Ideen mit Schrift zu visualisieren.« Entstanden ist eine leicht psychedelische Fontfamilie, die zu den Albumcovern jener Zeit ebenso passt wie zu aktuellen Designs. Beim Displayfont Kaikura stellte er sich selbst als Zeitreisenden ins Jahr 1977 vor, der in einem Hinterzimmer eines Nachtclubs die verstaubten Vorlagen für dieses Design entdeckt.
Das schöne Winterwetter der Schwarzmeerregion liegt der Ikon Pontika zugrunde. »In ihr kann man den feuchten und nebligen Himmel sehen, den Wind und den Blick auf die grasbewachsenen Hochebenen«, so Murathan Biliktü. Dem reichen kulturellen Erbe und der spannenden Geschichte dieser Gegend zollte er Tribut, indem er die Schrift auch für Georgisch, Armenisch und Griechisch zeichnete.



Inklusives Typedesign
Fonts für besondere Sprachen zu entwickeln und dadurch einen inklusiveren Designansatz zu fördern, ist für den Typedesigner ein wichtiges Anliegen. Momentan arbeitet er an einem kasachischen Alphabet. »Es wird eine Art Übersetzung der Kunst- und Typografiegeschichte Kasachtans in lateinische und kyrillische Buchstaben. Die Schrift ist mehr von der traditionellen Kultur des Landes als von der Sowjetzeit inspiriert – auch wenn ein paar Motive aus dieser Phase natürlich nicht fehlen dürfen.«
Im vergangenen September zog Murathan Biliktü nach Toronto und begann ein Masterstudium Inclusive Design an der OCAD University. Konnte er als Neuankömmling in Kanada die Gefühle seines Großvaters noch besser verstehen? »Ganz zu Anfang stellte sich gelegentlich das Alien-Feeling ein«, so der Designer. »Aber ich habe mich sehr schnell daran gewöhnt, mich außerhalb meiner Komfortzone zu bewegen, und Toronto steht Ausländer:innen und fremden Kulturen offen und herzlich gegenüber – ich fühle mich sehr wohl hier.«



