
Zeit für Umbrüche: Das sind die Gestaltungstrends 2023!
Raus aus eingefahrenen Mustern! Statt zu beklagen, dass gerade alles so ähnlich aussieht, haben wir uns auf die Suche nach den neusten Entwicklungen in Illustration, Web- und Printdesign gemacht
Maïté Marque, Paris
»Maïté hat einen ganz eigenen Stil, den man in dieser Art in der Schweiz kaum sieht«, sagt Marcus Kraft. Der Designer arbeitete darum mit ihr bei seiner jüngsten Kampagne für das Zürcher Theaterspektakel zusammen, wo er jedes Jahr wieder mit ungewöhnlichen Bildwelten überrascht. Die Pariser Illustratorin haben die Besuche geprägt, die sie als Kind bei ihren vielen Verwandten in der Dominikanischen Republik in Häuser voller farbenfroher Gemälde und bunter Früchte führten. Wohl daher rühren die »kräftigen Farben in teils unkonventionellen Kombinationen«, die auch Marcus Kraft begeistern. In Maïté Marques Bildern auf Instagram spielt feminine Sinnlichkeit eine große Rolle, wobei die Illustratorin das tatsächlich in der Kosmetik gerade so beliebte Airbrush-Make-up ins Extrem führt . . . Zu ihren Einflüssen zählt Maïté Marque aber auch die impressionistische französische Malerin Berthe Morisot und die (teils Gewalt darstellenden) erotischen Bilder des Japaners Toshio Saeki.
Marcelo Lavin, Mexiko-Stadt
»Weil man damit besser als irgendwie sonst fast jede Art von visuellen Effekten umsetzen kann, liebe ich den Digital-Airbrush-Stil«, so der Artist, der jüngst in der internationalen Modewelt von sich reden machte: Stardesigner Hedi Slimane lud ihn ein, die aktuelle Céline-Kollektion mit seinen Artworks zu bestücken. Es ist ein ganz spezieller Mix, den Marcelo Lavin an Tablet und Handy mit ibisPaint und Clip Studio Paint, am Rechner mit Photoshop und After Effects kreiert. Einerseits fließt der surreal-technoide Vaporwave-Stil ein – Lavin gestaltet immer wieder Cover für diese Musikszene –, andererseits die mexikanische Kultur, die ihn stark prägte, besonders der legendäre Maler Rufino Tamayo, der seinerseits von der Kunst der Azteken und Maya inspiriert war. So meint man auch in Marcelo Lavins Kreationen präkolumbianische Ornamente und Masken zu erkennen. »Vor allem aber bringe ich wohl den mexikanischen Sinn für absurden Witz in meine Arbeit ein«, fasst er selbst es zusammen.
Ibrahim Rayintakath, Ponnani, Indien
Dass auch sehr ernste Themen sich mit smoothen Airbrush-Techniken behandeln lassen, zeigt Rayintakath etwa mit den Illustrationen, die er für den wöchentlichen Klimawandel-Newsletter der »New York Times« liefert (wie das Bild oben). »Mein Ansatz ist collagenartig, die Farbwahl bringt eine gewisse Leichtigkeit ein«, so der Zeichner. Der unter roter Sonne vorbeifliegende Vogel ist der vom Aussterben bedrohte Rotschenkel – das Bild entstand für das wirtschaftskritische niederländische Onlinemagazin »Follow the Money«. Während der Pandemie gab Rayintakath seinen Job als Artdirector in einer Werbeagentur auf und zog zurück in seinen in Südindien am Meer gelegenen Heimatort Ponnani. Von dort arbeitet er nun international als freier Illustrator auch für Kunden wie Google oder Apple.
Webdesign: Weniger Scrollen, mehr Audio
Im Webdesign stehen grundlegende Umbrüche an. Hier kommen die Vorboten
Gruselige Zahlenvergleiche machten jüngst mal wieder die Runde – bezüglich der Kilometerzahlen (ja, Kilometer!), die wir durch pures Scrollen überwinden, ohne uns von der Stelle zu rühren. Allein in den sozialen Medien erreichen wir dabei in knapp 23 Tagen den Gipfel des Mount Everest – und in vier Jahren könnte unser Daumen von München nach Berlin wandern …
Weil es so definitiv nicht weitergehen kann, versuchen Webdesigner:innen zunehmend das ewige Scrollen auf immer neuen Unterseiten zu vermeiden und Inhalte stattdessen kompakt auf die Startseite zu bringen. Eine solche Verdichtung von Content verlangt, dass die Navigationselemente sichtbar auf dem Screen verteilt sind, statt sich in Hamburger-Menüs zu verstecken. Die Userinnen und User ständig komplexerer Handy- und Tablet-Interfaces haben sich mittlerweile daran gewöhnt, Inhalte und Funktionen von allen Seiten auf den Bildschirm zu holen. Bewegung auf dem Screen wird längst nicht mehr nur vertikal gedacht. Nicht zufällig findet sich das kompakte Design erst mal vor allem auf Portfolio-Sites, die sich ohnehin immer stärker zu Hubs verschiedener Kanäle entwickeln.
Schnell ans Ziel
Diese Websites kommen ganz oder fast ohne Scrollen aus – der Trend geht zur Verdichtung in der Navigation





Wie lang bleiben Websites noch stumm?
Als Twitter vor Kurzem einen zirpenden Refresh-Sound einführte, gingen die Meinungen auseinander – natürlich vor allem auf Twitter selbst. Die einen fanden’s »nice«, die anderen »damn irritating«. Noch reagieren viele Userinnen und User auf ungewohnte Klänge in Interfaces allergisch, aber immer öfter passiert auch das Gegenteil. Nicht nur, dass im Zeitalter von Homeoffice und Kopfhörern für Videocalls Sound weniger stört. Wer nach ausgiebigem YouTube-, TikTok- oder Insta-Reels-Konsum auf eine x-beliebige Website kommt, empfindet die Tonlosigkeit oft als regelrecht befremdlich – sogar bei Musiker:innen oder Plattenlabeln empfängt einen Totenstille, man darf nur mal Hörproben oder YouTube-Videos an- und ausschalten.
Wirklich ausgiebig mit Musik oder einer Erzählerstimme arbeiten momentan nur WebGL-Sites, auf denen man opulentes Storytelling eher wie Video erlebt – bloß nichts anklicken, sonst wird’s hakelig. Fließende Sounderlebnisse? Fehlanzeige. Dabei zeigt das immer ausgefeiltere Audiodesign von Spielen, wie es geht. Ohne atmosphärische, perfekt auf die Aktionen der Spielenden reagierende 3D-Audio-Effekte würde das Gameplay meist überhaupt nicht funktionieren. Ganze Abteilungen von Sounddesigner:innen tüfteln an diesem Zusammenspiel, in das die Gamergeneration hineinwächst.

Das World Wide Web Consortium hat die jahrelang entwickelte Web Audio API zum neuen offiziellen Standard für Ton in Webbrowsern erklärt. Noch ist die JavaScript-Schnittstelle wenig bekannt jenseits der nerdigen Kreise, die sich seit 2015 jährlich zur Web Audio Conference treffen. Sie soll künftig dynamisch generierte Klangeffekte ermöglichen – sei es zur Untermalung räumlicher Erfahrungen, für Onlinemusikinstrumente oder für akustisches Feedback im UX Design et cetera. Gerade erschien mit »Wilderplace« das erste Spiel für Windows und Mac, dessen interaktive Klangwelten mit der Web Audio API entstanden.
Wer es erst mal einfacher haben will, kann kostenlos die wirklich schönen Soundkits auf https://snd.dev ausprobieren. Dort steht genau, wie man die Klänge mittels einer eigens entwickelten JavaScript-Library mit wenigen Codezeilen einbindet. Hinter dem SND-Projekt, das eigentlich zu besserer Usability durch Sound inspirieren sollte, steckt Yasuhiro Tsuchiya vom Dentsu Customer Experience Creative Center in Tokio. »Ich wollte das sinnliche Erleben zurückbringen, das beim Shift vom skeuomorphen zum Flat Design verloren gegangen ist«, so Tsuchiya. »Um so überraschender, dass nicht nur UX-Designer:innen, sondern auch Creative Coder wie Ikeryou die Sounds aufgreifen.« Zeit für Experimente!
Kreative Klänge
Smarte Soundanwendungen aus dem Hamburger Designstudio Liebermann Kiepe Reddemann




Druck-Sachen
Print wird zum Medium für die besonderen Augenblicke

Wann hatten Sie zuletzt einen Flyer oder eine Broschüre in der Hand? War es vielleicht ein Programmheft im Theater? Werbebroschüren und Produktkataloge jedenfalls gehören einer aussterbenden Spezies an. Speisekarten übrigens auch (siehe Seite 54). Drucksachen werden von der alltäglichen Wegwerfware zur aufhebenswerten Preziose. Explodierende Papierpreise verstärken den Trend. Allein im letzten halben Jahr legten sie noch mal um rund 30 Prozent zu, grafische Papiere sogar um 36 Prozent. Das hat viele Gründe: Zellstoff und Altpapier sind teurer geworden (Letzteres um das Dreifache), Ukraine und Russland liefern keine Rohstoffe und kein fertiges Papier mehr. Was auf dem Weltmarkt bleibt, kauft China. Und deutsche Papierhersteller fürchten jetzt die Gasknappheit im Winter.
Digital lassen sich die meistem Inhalte ohnehin billiger und umweltfreundlicher kommunizieren – nach IKEA stellt nun auch Manufactum seinen kultigen Printkatalog ein. Landeten früher Milliarden Werbemittel in den Briefkästen, erlaubt sich heute ein digitaler Marketingservice wie Mailchimp den Luxus, zu seinem 21. Geburtstag den Mitarbeitenden ein edles Bilderbuch zu schenken. Für die Agentur BUCK in New York, die sonst eher Animationen für Mailchimp erstellt, auch ein besonderes Erlebnis, wie Kreativdirektor Shannon Jager berichtet. BUCK zog sämtliche Register mit Illustrationen von Lourenço Providência, Folienprägung auf dem Cover, mattgestrichenen Innenseiten und einer glossy gelben Linie, die sich durch die Geschichte zieht. Natürlich ist Logomaskottchen Freddie die Hauptfigur.

Wobei neben klassischer Veredelung Printobjekte von Materialität und Handling her gern auch als »unfertig« anmutendes, zur Interaktion einladendes Erlebnis inszeniert werden. Das Bookazine »Capsule« aus Mailand, das sich als »International Review for Radical Design & Desire Theory« bezeichnet, kommt im Überformat von 280 mal 335 Millimetern in farbiger Spiralbindung daher – passend zum Thema als »Objekt der Begierde«, wie Rosario Florio vom Schweizer Designstudio Kasper-Florio erklärt. »Die Spiralbindung wirkt modular und flexibel, bietet viele Möglichkeiten für verkürzte Seiten, Ausklapper oder unterschiedliche Papiersorten.«

Wie begehrt Drucksachen überall da sind, wo persönliche Begegnungen zählen, hat Barbi Mlczoch jüngst auf der beliebten Fotomesse UPdate erlebt. Die Wienerin leitet die Berliner Repräsentanz Cosmopola, aber eine ihre Lieblingsbeschäftigungen ist es immer noch, im Café zu sitzen und Zeitung zu lesen. Kurzerhand beschlossen sie und Tina Behrens von der »Konkurrenz«-Agentur Double T photographers, auf einem gemeinsamen Stand ihre Fotograf:innen mit jeweils einer eigenen Zeitung vorzustellen. Im Gegensatz zu anderen rein digitalen Ständen kam diese Atmosphäre inklusive gemütlichem Sofarondell bestens an, und die Zeitungen wurden gerne mitgenommen. Print wirkt!

Dieser Artikel ist in PAGE 11.2022 erschienen. Die komplette Ausgabe können Sie hier runterladen.