
Infografik: Wie viel Reduktion ist gut?
Ob Corona-Pandemie oder Rentenvorsorge – Infografiken erklären die Welt. Um komplexe Sachverhalte verständlich zu machen, müssen Gestalter sie vereinfachen und Aspekte weglassen. Doch wo ist die Grenze? Wir geben Tipps zur richtigen Balance und die Kunst, den Betrachter klug zu involvieren.


Es braucht Erfahrung, um den Punkt zu finden, an dem man genug reduziert hat, niemand möchte, dass die Darstellung an Aussagekraft verliert oder gar falsch ist. »Leider sieht man immer wieder – auch in seriösen Medien oder in der Unternehmenskommunikation – zu stark vereinfachte oder nicht korrekte Grafiken. Gerade wenn sie, wie jetzt in der Corona-Krise, unter großem Zeitdruck entstehen«, so Jan Schwochow. »Da gibt es dann schon mal Weltkarten, auf denen die Punkte nicht im richtigen Verhältnis zueinander stehen, weil der Gestalter beispielsweise Fläche mit Radius verwechselt hat.«
Infografisch darstellen, was das Gehirn versteht
Das Geschehen um die Ausbreitung des Corona-Virus infografisch darzustellen, ist eine besondere Herausforderung für Gestalter. Vor allem das exponentielle Wachstum der Pandemie erschließt sich nur schwer, denn das menschliche Gehirn ist nicht gemacht fürs nicht lineare Denken. Trotz vieler Infografiken mit dramatischen Zahlen oder stetig wachsenden Kreisen blieb die rasende Geschwindigkeit, mit der sich das Virus verbreitet, in den meisten Köpfen eine vage Vorstellung. Anders bei der Simulation in der »Washington Post« vom 18. März. Mit einer kurzen textlichen Erklärung und animierten Punkten in drei Farben gelang es den Gestaltern, jedermann klarzumachen, was exponentielle Verbreitung bedeutet und dass soziale Distanzierung das wirkungsvollste Mittel zur Bekämpfung der Epidemie ist.

Reduzieren lässt sich im Übrigen nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form einer Informationsgrafik. »Designer sollten sich ständig fragen, welche Elemente sie wirklich brauchen«, rät Jan Schwochow. »Sind alle Linien nötig? Muss bei jedem Punkt die Jahreszahl stehen oder reicht es bei jedem zweiten? Müssen es immer alle vier Zahlen eines Jahres sein oder sind die letzten beiden genauso eindeutig?« Nach der Reduktion ist die nächste große Herausforderung für den Informationsgrafiker, das richtige Maß zwischen Entertainment und Information zu finden, so Schwochow: »Ist alles bunt und wild durcheinander, geht die Information verloren. Das macht dem Betrachter vielleicht Spaß, aber verstehen tut er nicht viel. Vernachlässigt man vor lauter Information die visuelle Aufbereitung, hat man eine Grafik, die vor allem eins ist: langweilig.«
Flaschen- statt Tortenmodell: Spannndes Infografik-Beispiel
Hahn+Zimmermann verwendet möglichst keine austauschbaren infografischen Modelle wie Torten- oder Balkendiagramme. Und so geben die Visualisierungen, die das Berner Designbüro fürs »F.A.Z. Quarterly« entwarf, gleich Aufschluss über das jeweilige Thema. Die Darstellungen werden dadurch visuell zwar etwas komplexer, aber auch deutlich spannender. Hahn+Zimmermann für »Frankfurter Allgemeine Quarterly«
Interaktive Grafiken: Bewegung hilft!
Die Corona-Visualisierung der »Washington Post« war auch deshalb so gut verständlich, weil sie auf Animationen setzte, die das Thema nach und nach erklärten. Ein großer Vorteil gegenüber Print, wo alles auf einen Blick erfassbar sein muss. »Eine gute Möglichkeit, komplexe Sachverhalte darzustellen, sind auch interaktive Grafiken, bei denen man den User aktiv in den Leseprozess involviert«, so Christine Zimmermann. »Kann jemand selbst Filter auswählen, Anordnungen sortieren und seine eigenen Fragen stellen, die dann aus der Grafik heraus beantwortet werden, nimmt er nachhaltigeres Wissen mit, als wenn er nur ein statisches Bild anschaut.«
Auf Animationen und bunte, einfach gehaltene Illustrationen setzen auch die erfolgreichen »Kurzgesagt«-Erklärfilme des Münchner Designers Philipp Dettmer. Über hundert Videos zu durchaus komplexen Themen aus Technologie, Biologie, Raumfahrt, Physik, Gesellschaft und Philosophie hat er bereits produziert, auf YouTube haben sie mehr als 11 Millionen Abonnenten. Zwar findet manch einer die Ästhetik zu bunt und kindlich, bedenkt man allerdings, wie viele Erwachsene die Erklärfilme in den Kindernachrichten »logo!« schauen, um »endlich auch mal was zu verstehen«, ahnt man: Je komplexer die Themen, desto weniger kompliziert dürfen sie erklärt sein.
Aber wo fängt das Entertainment an und hört die Infografik auf? Gerade ihre wachsende Beliebtheit hat dazu geführt, dass sie auch als rein visuelles Element ohne großen Informationscharakter zum Einsatz kommt. Virtuos beider Formen bedient sich das zweimal jährlich erscheinende Magazin »Weapons of Reason« der Londoner Agentur Hüman After All, das globale Probleme wie zum Beispiel die unfaire Verteilung von Wirtschaftsgütern verständlich machen will. Für die Gestaltung der tollen Texte nutzt Kreativdirektor Paul Willoughby mal echte Infografiken, mal solche, die nur auf den ersten Blick so aussehen, vor allem aber illustrativen Charakter haben. Durch diese Kombination bekommen die schweren Themen eine Leichtigkeit, die ihnen guttut.

Nicht (nur) für Kinder: Mit gut 11 Millionen Abonnenten sind die »Kurzgesagt«-Erklärfilme auf YouTube ein Renner. Im neusten Clip macht Philipp Dettmer das Corona-Virus und seine Folgen für jedermann verständlich.
Ungewöhnlich erklärt statt reduziert
Christine Zimmermann und Barbara Hahn beobachten, dass sich der Trend zu immer komplexeren Infografiken allmählich umkehrt. »Wir bekommen häufiger Anfragen zu weniger umfangreichen Darstellungen, sicher auch, weil Social Media in der Kommunikation von Unternehmen eine wachsende Rolle spielen.« Dabei bedeuten Social Media nicht zwangsläufig gnadenlose Reduktion. Das haben die beiden in dem selbst initiierten Projekt »20 Wochen 20 Grafiken« herausgefunden.

Die Grundlage bildete ein Datensatz zum Geschlechterverhältnis im Schweizer Nationalrat von 1971 bis 2015. In den zwanzig Wochen vor den Nationalratswahlen 2019 veröffentlichten sie über Social Media jede Woche eine animierte Infografik, die jeweils einen Ausschnitt desselben Datensatzes in immer anderen visuellen Darstellungen – mal mehr, mal weniger komplex – präsentierte. »Wir haben die Reichweite und die Likes der zwanzig Grafiken untersucht und festgestellt, dass keineswegs die einfachsten Umsetzungen, die sich an Standarddiagramme anlehnten, am beliebtesten waren«, berichtet Christine Zimmermann, »sondern vor allem die ungewöhnlichen Grafiken, die bei denen man zweimal hinschauen muss.«
Leseanleitung für Infografik mitgeben
Ob ganz einfach, mittel- oder hochkomplex, in der Regel erwarten Leser heute eine Anleitung, wie sie die Grafiken lesen sollen. »Ich stoße immer wieder auf Infografiken, die die Daten einfach in einem oder auch in mehreren Charts zur Verfügung stellen, den Inhalt, die Story hinter den Daten, muss man sich dann selbst erarbeiten«, sagt Jan Schwochow. »Aber eben gerade bei komplexen Datenvisualisierungen braucht es Führung. Wir müssen die Charts erklären, eine Abfolge vorgeben und mit Animationen arbeiten – so dass der Leser zunächst die Fakten bekommt, dann eine Einordnung und am Ende schlauer ist als vorher.«
Infografik-Seminar mit Jan Schwochow: Das PAGE Seminar »Infografik digital« richtet sich an alle Gestalter, die einen umfassenden Einstieg in zeitgemäßes Visual Storytelling benötigen.

Gut, dass es bei diesen vielfältigen Aufgaben inzwischen eigens Studiengänge für Informationsdesign gibt. Christine Zimmermann und Barbara Hahn unterrichten seit etwa neun Jahren an verschiedenen Hochschulen und in Unternehmen, sie beobachten ein stark steigendes Interesse am Thema. »Das ist sehr gut so. Schließlich geht es nicht nur um die grafische Gestaltung der Daten, sondern auch um die mathematisch korrekte Umsetzung – und darum zu wissen, was man machen darf und was nicht, um die Daten nicht zu verfälschen.« Anders ausgedrückt: Gründliche Recherche und saubere, überlegte Darstellung statt Fake News.


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