Warum es gerade heute so interessant ist, den wohl wichtigsten deutschen Designer des 20. Jahrhunderts wiederzuentdecken.
Über Otl Aicher ist in der Vergangenheit schon viel geschrieben worden. Trotzdem inspiriert das opulente Buch »Otl Aicher. Designer. Typograf. Denker« zum 100. Geburtstag wieder aufs Neue. Natürlich berichtet es von allen legendären Projekte Aichers, etwa als Mitgründer der HfG Ulm oder für Lufthansa und Braun. Vor allem aber geht es darum, was ihn bewegte – und das formulierte er selbst so: »mein denken war andenken gegen hitler«.
Krieg und Diktatur hatten den Autodidakten, der nicht mal Abitur machen durfte, weil er nicht der Hitler-Jugend beitrat, entscheidend geprägt. Die berühmte Stunde Null, mit der 1945 der deutsche Neustart begann, steckte für ihn voller Bedeutung: »Null ist von allem der Fußpunkt, der fixe Ort des Maßes. Von Null geht die Spanne zum All«. Auch das legendäre Design der Olympiade 72 ist so als radikales Gegenmodell zu den Spielen von 1936 zu sehen.
Sein Leben lang blieb Aicher politisch, setzte sich für Demokratie und Frieden ein. Mit seiner Frau Inge Aicher-Scholl (einer Schwester der als Widerständler gegen Hitler hingerichteten Geschwister Scholl) engagierte er sich 1979 gegen die Stationierung von Atomraketen in Deutschland, sowohl kreativ mit Plakaten (siehe oben) als auch praktisch mit Sitzblockaden und der Organisation einer mehr als 100 Kilometer langen Menschenkette. Eine faszinierende Gestalterpersönlichkeit, von der gerade heute wieder Impulse ausgehen. Und ein enorm spannend zu lesender Aufsatzband.
Winfried Nerdinger, Wilhelm Vossenkuhl (Hrsg.): Otl Aicher. Designer. Typograf. Denker. Prestel, München 2022 256 Seiten 49 Euro 978-3-7913-7943-2 Direkt beim Verlag bestellen