Karl Wolfgang Epple reist durch Asien, um Menschen und Märkte besser kennenzulernen. Diesmal: Thailand und die Macht der Sterne (Michelin, that is).
Thailand ist der fünfte Stopp auf der Asien-Reise von Karl Wolfgang Epple, zuletzt Executive Creative Director bei thjnk. Hier geht er der Marketing-Maschine Michelin-Stern auf den Grund – inklusive gutem Essen und befremdlichen Lokalitäten. Droht dem Michelin-Stern die Verramschung?
Wo leuchten die Sterne heller?
Ich bin einer dieser Werber, die mit frenetischer Vehemenz die Wichtigkeit von Awards verteidigen, besonders der Cannes Lions. Es gibt nichts wichtigeres als die Cannes Lions, merken Sie sich das! Und was dem Werber ist der Löwe, ist dem Koch der Stern. Michelin Sterne gehören zu den begehrtesten Auszeichnungen in der Welt der Kochkunst; sie werden von nahezu allen Köchen in ihrer Karriere angestrebt. Für uns Esser sind sie das einzige Qualitätssiegel, das wir überall kennen, vom Heidepark Soltau bis ans Ufer der Saône. Und auch für mich haben die Sterne als Marke eine unglaubliche Strahlkraft. Seit der renommierte Restaurantführer »Guide Michelin« 2008 seine Beschränkung auf Europa aufgegeben hat, gibt es in Asien einen regelrechten Run auf die Sterne. Tokio hat heute mehr Sternerestaurants als Paris und New York zusammen (ca. 200 Sterne!).
2018 gab es das rote Büchlein erstmals auch für Bangkok, wo ich mich gerade befinde. 2019 wurden schon ganze 27 Restaurants mit Sternen bedacht. Sie sehen: Die Sterneküche boomt in Thailand. Auf die Höchstpunktzahl hat es jedoch bisher noch keiner gebracht. Auf drei Sterne. Vergessen Sie »five star dishes, different exotic fishes«. Es gibt höchstens drei. Jeder Stern bedeutet etwas bestimmtes; das ist eine kluge Sache.
Mein ehemaliger Partner Matthäus Frost sagte mir mal, dass er den Guide Michelin sogar für die genialste Content-Idee aller Zeiten hält: ein Reiseratgeber, der die Menschen zum Autofahren animiert. Mehr Autofahren heißt mehr Reifenabrieb. Und Reifen sind es, die Michelin verkauft. Das dicke weißwolkige Reifenmännchen, Sie wissen schon. Mit dieser Idee fing es im Jahr 1900 an. Das muss man sich mal vorstellen: Das Auto war erst 14 Jahre erfunden; auf Frankreichs Straßen fanden sich gerade mal 3.000 Autofahrer. In den Zwanzigern gewann der Guide Michelin für die Gastronomie einen höheren Stellenwert, weil er erstmals einzelne Sterne vergab. 1936 kamen die Definitionen hinzu, die bis heute gelten:
1 Stern: Eine Küche voller Finesse – einen Stopp wert!
2 Sterne: Eine Spitzenküche – einen Umweg wert!
3 Sterne: Eine einzigartige Küche – eine Reise wert!
Auf meiner Asienreise halte ich mich nicht immer an diese Definitionen. Das Smart Fish in Chiayi auf Taiwan hat z.B. überhaupt keinen Stern und trotzdem ist seine Fischkopfsuppe der einzige Grund gewesen, warum ich diese Stadt besucht habe. Aber ich habe in Asien auch in vielen Sternerestaurants gegessen – Budget-bedingt ausschließlich in 1-Stern-Restaurants, versteht sich. Bei Din Tai Fung (DTF) etwa. Meine Singapurer Freundin Jenni Kuhlmann hat es mir vor ein paar Jahren zuerst empfohlen und diesen Tipp gebe ich Ihnen jetzt weiter.
DTF ist eine interessante Ausnahme im Sternekosmos, nämlich eine Kette. Verkauft wird hauptsächlich Dim Sum. Die Xiaolongbao sind definitiv einen Stopp wert! Darum baue ich DTF immer in meine Reise ein, wenn ich eine Stadt besuche, in der es DTF gibt: Singapur, Kuala Lumpur, Taipeh, Dubai, Osaka. In Hongkongs Silvercord Shopping Center finden Sie die Filiale, die 2010 mit einem Stern ausgezeichnet wurde.
Natürlich finden Sie DTF auch hier in Bangkok. Genau wie die andere Dim Sum Kette, die ich liebe: Tim Ho Wan nennt sich selbst »the world’s cheapest Michelin-star restaurant« – auch es bekam seinen ersten Stern 2010, nur ein Jahr nach Eröffnung. Kein Wunder, denn der Gründer ist niemand geringeres als Mak Kwai-Pui, ehemals Chefkoch des 3-Sterne-Restaurants Lung King Heen. Sagte ich es schon? – Ich liebe Essen! Wenn Sie mir eine Freude machen wollen, schicken Sie mir bitte einfach Essen und Wein.
Wenn man in Asien von Restaurant zu Restaurant wandert und überall Sterne prangen sieht, stellt man sich allerdings früher oder später unweigerlich die Frage, mit Verlaub, ob diese ganze Sternennummer hier drüben nicht vielleicht ein bisschen einfacher zu erreichen ist als bei uns. Für mich kam dieser Punkt an einem Donnerstag um 16:30, in der Maha Chai Road in Bangkok, genauer: in der enormen Warteschlange des Street Food Lokals der 73-jährigen Jay Fai.
Das Ambiente kann man beim besten Willen nicht als Fine Dining bezeichnen. Das Licht ist grell, die Wand gekachelt, die Übergänge von Straße zu Bürgersteig zu Restaurant sind, sagen wir mal, fließend. Überall stehen und sitzen Wartende rum, manche in Flip Flops, manche in Gucci. Eine eingeschweißte Din-A4-Seite verlangt 1.000 Baht für das Krabbenomelett, knapp 30€ – ein stolzer Preis für die Gegend. Eine andere DIN-A4-Seite kommt mit noch schlechteren Nachrichten: FULLY BOOKED.
Eine genervte Maître d’ teilt uns per Pappkärtchen mit, wir könnten heute hier nicht essen. Es laufe so, dass man per E-Mail reservieren könne, aber nur 80 Plätze pro Tag und die seien für die nächsten Monate restlos ausgebucht. Dann gebe es noch die Möglichkeit, früh zu kommen und sich auf eine Walk-in-Liste zu schreiben. Dafür seien weitere 80 Plätze vorgesehen. Früh kommen, na ja gut, das Restaurant öffnet laut Schild (viele Schilder hier) um 14:00 und es ist, wie gesagt, 16:30. Aber ok.
Am nächsten Tag sind wir um 11:00 da und schaffen es tatsächlich auf Listenplatz Nr. 45. Wir warten acht Stunden auf unseren Tisch. Acht Stunden. Falls Sie es überlesen haben. Man bekommt einen Plastikstuhl auf dem Gehweg, kann was zu trinken bestellen und die Grand Dame bei der Arbeit beobachten. Jay Fai wirkt auf den ersten Blick nicht gerade wie jemand, der an Wettbewerben des kopenhagener Noma teilnimmt und Thai Airways bei der Kreation ihres First Class Menüs hilft. Macht sie aber alles. Sie hantiert an einem Flammen schlagenden Holzkohle-Herd, darauf ein schwerer Wok voll spritzendem Öl, im Rücken ein großer Ventilator. Sie trägt blaue Chirurgen-Handschuhe, ein Camouflage-Shirt, eine schwarze Schürze, eine Wollmütze und eine Ski-Brille als Schutz vor Hitze und Feuer.
Sie brät sehr konzentriert, spricht und lächelt wenig. Ihre Handgriffe sind ruhig und überlegt. Jedes Gericht kocht sie selbst. Um sie herum wuseln zwar mehrere Küchenhilfen, sie dürfen aber nur beim Schnipseln helfen. Aufgeregte Kellner rennen umher, die genervte Maître d’ knallt alle 20 Sekunden einem Neuankömmling das Ausgebucht-Schild vor den Latz. Dann sind wir irgendwann dran und dürfen bestellen und dann, ja, dann kommt das Essen.
Eigentlich hätte ich’s ja von Caspar, Melchior und Balthasar wissen müssen: Ein Stern über bescheidener Behausung kann durchaus Glorreiches verheißen. Und so ist auch bei Jay Fai. Das Krabbenomelette ist jedes grelle Licht, jede Kachel und jede der acht Wartestunden wert. Die Drunken Noodles sind ein Gedicht. Aber nicht so eins von Julia Engelmann, sondern schon eher Heine, wenn nicht gar Fontane. Thai-Basilikum, Chili, Kokos, Garnelen, Squid und Cuttlefish in rauchiger, klebriger Soße, großartig!
So viel Finesse hinter so wenig Fassade hat mich trotzdem stutzig gemacht und darum habe ich es später recherchiert: Bei der Bewertung von Restaurants legt der Guide Michelin tatsächlich keinerlei Wert auf Äußerlichkeiten. Ambiente und Service werden gesondert mit bis zu fünf über Kreuz gelegten Messer-und-Gabel-Bestecken bewertet. Für die Sterne gilt ganz allein die Küchenleistung, also Qualität und Frische der Zutaten, Zubereitung, natürlich Geschmack und Innovation und Einzigartigkeit der Gerichte. Kreativität eben.
Und trotzdem bleibt für mich die Frage: Hat es Asien beim Guide Michelin leichter? Ist es vielleicht nur eine Marketing-Strategie, Dim-Sum-Ketten mit Sternen zu ehren? Oder in Kobe mehr 2- und 3-Sterne-Restaurants auszuzeichnen als in London? Schleimt man sich so ein? Nötig wär‘s, denn in Japan gibt es Stimmen wie Chef Toshiya Kadowaki, die sagen, Fremde hätten in der Bewertung asiatischer Cuisine schon mal gar nix zu melden.
Und in Thailand? Hat es vielleicht sogar etwas arrogantes, wenn Europäer Jay Fais Straßenstand auszeichnen? Hat sie es zurecht auf den kulinarischen Olymp geschafft – als einziges Street Food Restaurant? Gerade für Bangkok – wo ordnungsfanatische Machthaber Straßenküchen wie die der Sukhumvit Soi 38 immer mehr zurückdrängen – ist genau dieser Michelin Stern ein ganz besonderer Erfolg.
Ich bin kein Restaurantkritiker; wenn Sie es selbst entscheiden wollen, müssen Sie wohl den Flieger nach Bangkok nehmen. Eine Reise wert finde ich es nicht, einen Umweg vielleicht auch nicht, aber einen Stopp allemal. Per Definition also ein Stern. Aber sie wissen ja selbst, wie es ist: Fährt man hungrig die A7 vom Heidepark nach Hause, ist auch der McDonald’s in Bispingen einen Stopp wert. Ok, das klingt jetzt gemein. Ich finde Jay Fais Essen fabelhaft. Ich wollte nur die Frage erlaubt wissen, ob der Stern von Jay Fais rustikalem Straßenlokal auf der Champs-Élysée wohl ebenso hell strahlen würde. Hm?
Aus markentechnischer Sicht muss der Guide Michelin auf der Hut sein, denn er droht sich zu entwerten. Natürlich hat es einen modernen Touch, eine Straßenküche auszuzeichnen. Aber als Baustein einer asiatischen Stern-Inflation kann dies zu einer Deklassierung der Restaurants der »alten« Kontinente führen. Verramschung, wenn Sie so wollen. So, wie wenn ein in dem Meer an Kategorien schlau eingereichter Radiospot plötzlich mit einem Turnbeutel voller Löwen aus Cannes zurückkommt.
Die Aufgabe der Zukunft wird also sein, sich den Respekt Asiens zu verdienen, ohne den Europas zu verlieren. Ein berüchtigter Spagat in der Marketing-Welt – denken sie nur an die Mode. Aber darüber reden wir ein andermal.