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Dos and Don’ts beim Kartendesign

Geografische Karten unterhalten, informieren und sind zugleich hochpolitisch. Wie also wandelt man als Designer:in auf dem schmalen Grat zwischen Abstraktion und Verzerrung?

Mehr Grafik als Karte? Diese wunderschöne Vogelperspektive von 1902 auf den Washington Summit und seine umliegenden Gebirge verzaubert mit einem abstrakten Illustrationsstil. Aber sie ist alles andere als geografisch genau, denn die verzerrte Perspektive – eher Fisheye als Draufsicht – komprimiert alle umliegenden Punkte so stark, dass eine Orientierung fast unmöglich wird. Noch dazu fehlen Maßstab und klare Intention der Karte.

Seit Monaten verfolgen wir fassungslos das Kriegsgeschehen in der Ukraine auf den Nachrichtenlandkarten der öffentlichen Medien – doch sehen die­se längst nicht überall gleich aus: Staatsnahe russi­sche Propagandasender präsentierten bereits vor Kriegs­beginn historische Karten, auf denen die Ukraine als »verschenktes« russisches Staatsgebiet abgebildet war. Im aktuellen Geschehen zeigen die russischen Sender weite Teile der Ukraine als erobert, verzerren Grenzen und Maßstäbe, um die öffentliche Meinung zu lenken. Kurz, sie folgen der langen Tradition, mit Landkarten Propaganda zu betreiben.

»Karten waren schon immer ein politisches Tool, um Grenzen, Machtverhältnisse und räumliche Zusammenhänge zu demonstrieren«, erklärt Informa­tionsdesignprofessorin Lisa Borgenheimer, die auch als Kartengestalterin für »Die Zeit« und die »Süddeutsche Zeitung« arbeitete. Land- und Stadtkarten bilden die geografische Grundlage für ein Narrativ, also eine zusätzliche Ebene, in der wir Daten, Zusam­men­hänge und politische Konstellationen grafisch aufbe­reiten. Dabei kann man leicht vergessen, dass schon die geografische Grundlage eine politische Aus­sage birgt und Grenzen, Machtverhältnisse und historisch gewachsene Strukturen zeigt ­– sie lässt sich mit wenigen grafischen Abstraktionen ungewollt verzerren oder aber strategisch zu politischen Zwecken verbiegen.

Für Designer:innen, die mit Land- und Stadtkarten arbeiten, ist also Vorsicht geboten, denn während sie sich hervorragend auf die ästhetisch abstrahier­te Darstellung der zusätzlichen Informationsebene in Karten verstehen, liegt ihnen die Präzision der klas­si­schen Kartografie oft fern. So sind rein nach ästhe­ti­schen Gesichtspunkten gestaltete Karten selten geo­grafisch »richtig«, doch eine komplett ungestaltete Landkarte ist eben auch nur schwer lesbar. Wie also schafft man es, ansprechend zu vereinfachen, ohne dabei den Blick für die politische Komponente der Kartengestaltung zu verlieren?

Kartendesign PAGE 10.2022 National Geographic Diversity Map
Mapping Diversity Das »Where we live, block by block«-Projekt der National Geographic Society sammelt Migrationsdaten in verschiedenen US-Städten. So lassen sich die amerikanische Einwanderungsgeschichte, aber auch Gettoisierung und Größenverhältnisse unterschiedlicher ethnischer Gruppen zurückverfolgen.

Klare Botschaften, bitte!

»Als Designerin oder Designer sollte man sich zu­allererst die Intention der Gestaltung vor Augen füh­ren. Möchte ich informieren, unterhalten oder eine be­­­stimmte Botschaft unterstreichen?«, fragt Andreas Lohner, Grafiker für die Regionalzeitung »Katapult MV«. Diese Intention bestimmt, welche Informa­tio­nen auf einer Karte hervorgehoben und welche stärker abstrahiert werden. Der Erfolg des »Katapult-­Magazins« zeigt eindrücklich das grafische Potenzial von Landkarten als Basis für einzelne Botschaften, spannende Fakten oder räumliche Zusammenhänge. Sein knalliger Grafikstil und die kurz gehaltenen Headlines verfolgen konkrete Ziele: Diskussionen anstoßen, informieren und unterhalten – und das möglichst auf den ersten Blick.

Der Informationsdesigner Jan Schwochow sieht stark abstrahierte Landkarten dagegen kritisch, denn »jede Grafik, der eine geografische Karte zugrunde liegt, wird immer auch als solche gelesen und sagt un­gewollt etwas über geologische und politische Zu­sammenhänge aus.« Er versucht daher, komplexere Inhalte durch Storytelling umfassend darzustellen und verständlich zu machen. Schwochow stattet sei­ne Kartendesigns mit unterschiedlichen Infor­ma­tions­ebe­nen, Zeit­achsen und 3D-Visualisierungen aus. Diese sind darauf ausgelegt, dass die Lese­r:in­nen sich intensiv mit der Landkarte beschäftigen. »Wir können niemals die ganze Realität in einer Kar­te ab­bilden«, erklärt der Informationsdesigner. »Aber wir können versuchen zu zeigen, wo, wann und warum etwas passiert, und das für unsere Zielgruppe so präg­nant wie möglich zu gestalten.«

Kartendesign PAGE 10.2022 Karte Aboübersicht des Symphonieorchesters
Grafischer Minimalismus – geografische Präzision Für die Aboübersicht des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks mappte Jan Schwochow 11 000 Adressen in einem Geoinforma­tionssystem. So zeigte er die unterschiedlichen Abotypen im Raum München und ganz Deutschland in einer faszinierend minimalistischen Karte, die nur mit Punkten und feinen Outlines auskommt.

Daten hinterfragen

Thematische Landkarten basieren immer auf min­des­­tens zwei Datensätzen: auf der zugrundeliegen­den Geoinformation und auf den Daten, die als In­for­ma­­tions­ebene aufbereitet werden sollen. Durch die Ver­zerrung in der Projektion (siehe »Projektion: Eine Frage der Perspektive) müssten De­sig­ner:innen allerdings schon die geologischen Daten kritisch hin­terfragen. Aus der Perspektive der Ge­stal­tenden fällt der Um­gang mit den Datenmengen nicht immer leicht – den­noch ist es wichtig, deren Ursprung genau zu prüfen und sie mit anderen verfügbaren Quellen abzugleichen.

Werden Daten und Karten nämlich ungeprüft ko­piert, können sich gravierende Fehler einschleichen, die für Laien kaum zu erkennen sind. Jan Schwochow stellte bei der Recherche für sein Buch »Die Mauer verstehen« fest, dass ein Großteil aller kursierenden Landkarten zur Berliner Mauer sich nicht nur deutlich voneinander unterschieden, sondern ein Gebiet Ostdeutschland zuordneten, das eigentlich zu Westberlin gehörte. »Je öfter wir falsche Karten reproduzieren, desto mehr werden sie zur Wahr­heit«, erklärt er. Mithilfe von archivierten Luftbildaufnahmen, die kurz vor dem Mauerfall entstanden waren, rekonstruierte Schwochow deshalb den tatsächlichen Mauerverlauf zu diesem Zeitpunkt und schuf so eine neue Datengrundlage.

»Die Arbeit mit Karten ist immer auch ein Stück journalistisches Handwerk«

Jan Schwochow, Informationsdesigner, Journalist und internationaler Speaker

Kartendesign PAGE 10.2022 Katapult Magazin Karte Mecklenburgische Seenplatte
Die Karte zur Grafik machen »Katapult« reduziert Karten gern auf einzelne Aspekte – zur Unterhaltung, zum Neugierigmachen und um Diskussionen anzuregen. Diese Karte der Mecklenburgischen Seenplatte zeigt das geografische Gebiet rein durch die Abbildung aller Waldflächen. So wird die Karte zur abstrakten Grafik, während Details wie die Müritz trotzdem erkennbar bleiben.

Den Überblick behalten

Aber wo fängt man an, wenn man Kartendaten benötigt? »Katapult« konsultiert die unterschiedlichsten statis­tischen Ämter sowie Open-Source-Geoda­ten wie Open­StreetMap. Sogar Wikipedia bietet Vek­torkarten für den Download an. Außerdem sitzen in der »Katapult«-Redaktion sogenannte GIS-Ex­per­­tin­­nen und -Experten, die Daten aus den unzähligen Onlinedatenbanken auswählen, prüfen und für das Designteam nutzbar machen. »GIS« steht für Geo­informationssysteme – kurz gesagt, handelt es sich ­dabei um verschiedene Tools und Methoden, mit denen sich komplexe Geodaten erfassen, analysieren und visualisieren lassen – fast wie in einem modernen digitalen Atlas.

Jan Schwochow konnte mithilfe von GIS-Softwares 11 000 Adressen in einer Karte für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nach Kategorien mappen. Das erforderliche Fachwissen, um mit den komplexen Systemen zurechtzukommen, eignete er sich selbst an: »Heutzutage muss man als Informationsdesigner:in ein wenig von allem können – vor allem aber souverän mit Datensoftwares umgehen. Dabei sollte man sich bewusst sein, dass Kartografie ein hochkomplexes Thema ist. Einlesen und Weiterbilden sind absolut wichtig.«

Kartendesign PAGE 10.2022 Interaktive Karte der National Geographic Society
Interaktiv für Anfänger:innen Die National Geographic Society steckt viel Zeit und Recherche in ihre Karten – umso schöner, dass sie diese in verschiedenen interaktiv anwählbaren Ebenen zur Verfügung stellt. Im MapMaker kann man ganz einfach eigene Karten mit diversen addierten Informationen erstellen und in unterschiedlichen Formaten speichern.

Sind interaktive Karten die Lösung?

Soll eine Karte komplexe Ereignisse abbilden, kann es sinnvoll sein, verschiedene Ansichten und Ebenen zu nutzen, die das Publikum interaktiv auswählen und einblenden kann. Das Karteninstitut ­National Geographic bietet ein kostenloses Onlinetool zur Erstellung interaktiver Karten an. Mit ihm können Nutzer:innen unterschiedliche Informationsebenen anlegen (siehe Abbildung oben).

Die einfachste Anwendung einer Landkarte mit mehreren Schichten kennen wir aus Google Maps, wo Userinnen und User zwischen Satelliten-, Standard- und Geländeansicht wählen können. Das Prinzip ist uns vertraut, doch stoßen interaktive Karten schnell an ihre Grenzen, sobald zu viele Informationen auf einmal eingebaut werden. »Wir haben häufig beobachtet, dass sich die Nutzer:innen in den Interaktionsmöglichkeiten verlieren und am Ende gar nicht mehr genau sagen können, worum es ging«, erzählt Jan Schwochow.

Dennoch kann eine interaktive Karte in be­stimm­­ten Situationen von Vorteil sein, um unterschiedli­che Geodaten verständlich zu machen. So gibt es den »Diercke Atlas« seit einigen Jahren als App in mehreren Lizenzmodellen für Lehrer:innen und Schulkinder. Darin können Kartenebenen auf- und abgeblendet, wichtige geopolitische Entwicklungen als Animationen eingeblendet und der Umgang mit Le­genden gelernt werden. Dadurch bleiben die Karten aktuell, auch wenn sich Landesgrenzen und Klimazonen verschieben.

Kartendesign PAGE 10.2022 Newsmap Berlin vom Oktober 1943 für die US-amerikanischen Special Forces im Zweiten Weltkrieg
Eine Frage der Perspektive Diese Newsmap vom Oktober 1943 sollte US-amerikanischen Special Forces im Zweiten Weltkrieg einen geografischen Überblick über Berlin geben. Die verwendete Punktprojektion mit der Stadt im Zentrum wird sogar in der Legende unten erklärt und lässt Distanzmessungen mit einem abtrennbaren Maßsstab zu.

Die Gestaltung abwägen

Doch selbst, wenn wir unsere Daten genau prüfen, unsere Zielgruppe einbeziehen und Informations­ebenen sichtbar machen, »meis­tens gibt es keinen richtigen Weg, um alle Fehler in der Gestaltung zu vermeiden«, so Lisa Borgenheimer. Heißt das also, dass Designer:innen doch lieber die Finger von der Kartografie lassen sollten? Ganz bestimmt nicht, denn was hilft, ist Transparenz. Sie rät dazu, Daten, die wir nicht genau prüfen können, visuell zu kennzeichnen – durch Schraffierung, Kontrastfarben, Signa­l­e­tik – Hauptsache deutlich: »Abzuwägen, wann eine als ›unsicher‹ gekennzeichnete Information besser ist als eine weggelassene – darin sehe ich unsere Aufgabe.« Im Da­ten­journalismus für Medien, die neutral auftreten sollten, muss die Gestaltung jedoch meist zu­gunsten der geografischen Genauigkeit in den Hintergrund treten. »Ela­bo­rier­tes Design ist etwa in einer Karte, die das Kriegsgesche­hen abbildet, eher fehl am Platz – sie lenkt von der Relevanz der geografischen Daten ab. Es geht eher darum, unsere eige­ne Recherche mit bestehenden Daten abzugleichen und zu kombinieren, sodass wir uns Stück für Stück der Realität annähern«, erklärt Borgenheimer.

»Karten bestehen aus Informationsschichten, aber manchmal liegt der Reiz genau darin, nur eine Ebene stehen zu lassen und so die Karte zur Grafik zu machen«

Andreas Lohner, Grafiker bei »Katapult MV«, Greifswald

Wenn wir dagegen Informationen weglassen und abstrahieren, wird das Kommunizieren einer klaren Intention umso wichtiger. Bei »Katapult« zeigen Set­ting, Tonalität, Headlines und farbenfrohe Gestaltung den Leser:innen sehr deutlich, dass das Magazin zu politischen Themen klare Stellung bezieht. Seine Karten sind nicht neutral, gehen aber dennoch sehr transparent mit den Quellen ihrer Datenebene um, sodass Leser:innen, die der Kartenaussage oder dem Absender gegenüber skeptisch sind, sich ein ei­genes Bild machen können. Denn Andreas Lohner findet: »Karten haben das Potenzial, in Sekundenschnelle politische und soziale Diskussionen anzuregen, Zusammenhänge zu zeigen und den Einstieg in komplexe Themen zu erleichtern. Und genau das ist unsere Aufgabe als Gestalter:innen.«

Kartendesign PAGE 10.2022 Beispiel Karte mit Punktprojektion oder Azimutalprojektion

Projektion: Eine Frage der Perspektive

Was den Wenigsten bewusst ist: Unsere Weltsicht, wie wir sie aus den gängigen Welt­karten kennen, ist in der Regel falsch. Karten besitzen nämlich allein durch den Transfer der räumlichen Erdkugel auf eine 2D-Grafik eine Verzerrung. Diesen Vorgang nennt man Projek­tion. Die gäng­igs­te ist die Mercator-Projektion, die auch die klassische Schulweltkarte und Google Maps anwenden. Sie ist eine Zylinderprojektion – man kann sie sich in etwa so vorstellen, als wickle man ein Rechteck um den Äquator und projiziere aus dem Erdinneren die Kontinente darauf. Tatsächlich ist sie für alltägliche Kartendar­stellung aber eher ungeeignet, da sie zu den Polen hin zunehmend in die Breite verzerrt. Dadurch ­erscheint Deutschland im Vergleich zu Grönland viel zu klein. Einen annähernd realistischen Größenvergleich findet man mittlerweile auch auf Websites wie www.thetruesize.com.

Je nach Kartenausschnitt und -intention kann eine andere Projektion sinnvoll sein. Die Punktprojektion oder Azimutalprojektion verwendet als Kartenmittelpunkt einen zentralen Ort – etwa eine Stadt oder eine Region – und betrachtet ihn als Pol der Karte. Dadurch werden alle weiter entfernten Punkte allerdings stark verzerrt, nur das Kartenzentrum bleibt geografisch korrekt. Diese Projektionsform kommt besonders bei stilisierten Karten zum Einsatz oder markiert in his­to­rischen Karten Machtzentren.

Dieser Artikel ist zuerst in der PAGE 10.2022 erschienen, die Sie hier downloaden können.

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