Wie der 3D-Artist Justus Steinfeld seine Sehbehinderung zur Superpower macht
Mit nur 20 Prozent Sehvermögen sieht Justus Steinfeld Dinge, die anderen entgehen: kreative Potenziale, inklusive Perspektiven und neue Wege der Gestaltung. Im exklusiven PAGE-Interview spricht er über inklusive Techniken, seine Arbeit mit Houdini und warum Barrierefreiheit in der Designwelt mehr ist als nur ein Nice-to-have.
Welche Künstler:innen oder Designer:innen inspirieren Dich?
Die Lichtsetzung von Portraitfotograf Greg Gorman beeinflusst meine 3D-Arbeiten sehr. 2018 hatte ich das Glück, einen seiner Workshops zu besuchen. Außerdem inspirieren mich die grafischen Naturbilder von Sandra Bartocha.
Was motiviert Dich täglich, weiterzumachen?
Die Alternativlosigkeit – und meine Liebe zu dem, was ich tue.
Welches Deiner Projekte liegt Dir besonders am Herzen?
Mein Bachelorprojekt. Gemeinsam mit 18 Menschen mit geistiger Behinderung haben wir untersucht, wie das Internet barrierefreier werden kann. Dabei stellten wir unter anderem fest, dass auf bundesregierung.de das Symbol für Leichte Sprache nicht erkannt wurde. Zu den Ergebnissen der Bachelor-Arbeit.
Wie entspannst Du Dich nach einem langen Arbeitstag?
Durch Joggen, Klavier-Improvisation, Freunde – und die Badewanne.
Wer ist der größte Freak, den Du kennst?
Joseph Beuys.
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Kuriose Begegnungen & kreative Überraschungen im Designalltag
Was war der lustigste Moment bei einem Fotoshooting oder Designprojekt?
Wenn ich in Städten mit dem Stativ fotografiere, machen Passanten manchmal sicherheitshalber auch ein Foto von “meinem” Motiv – obwohl sie gar nicht wissen, was ich fotografiere. Meist sind es entfernte Details mit dem Teleobjektiv.
Gab es ein besonders kurioses Projekt, das Du angenommen hast?
Mein Bachelorprojekt mit Menschen mit geistiger Behinderung war auf seine Weise kurios – und unglaublich bereichernd. Es hat gezeigt, wie wichtig barrierefreies Webdesign für alle ist.
Welches ungewöhnliche oder witzige Hobby hast Du?
Vielleicht nicht witzig, aber ich improvisiere auf dem Klavier und singe.
Wenn Du eine Superkraft haben könntest, welche wäre das?
Meine Sehbehinderung ist meine Superkraft. Durch mein unscharfes Sehen konzentriere ich mich sofort auf die Bildgestaltung. Und wenn ich Details brauche, zoome ich einfach ein.
Hast Du schon einmal ein Projekt realisiert, das ganz anders herauskam als geplant?
Ja, und das ist gewollt. Gerade bei freien Projekten lasse ich mich vom Prozess leiten. Houdini eignet sich perfekt dafür – dank seines non-destruktiven, prozeduralen Aufbaus.
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Präzision trotz Einschränkung: Techniken und Tools im kreativen Prozess
Welche Software und Werkzeuge nutzt Du für Deine 3D-Design- und Fotografieprojekte?
Ich bin vor 15 Jahren über Photoshop zur Fotografie gekommen. In 3D habe ich mit Cinema 4D begonnen, inzwischen arbeite ich fast ausschließlich mit Houdini.
Wie hast Du Deine Arbeitsweise an Deine Sehbehinderung angepasst?
Ich sitze näher am Monitor, vergrößere die Anzeige und nutze digitale Bildschirmlupen. Dadurch kann ich sehr detailliert arbeiten.
Welche technischen Herausforderungen begegnen Dir regelmäßig und wie meisterst Du sie?
Meine Sehschärfe liegt bei 20 Prozent – auch mit Brille oder Kontaktlinsen. Ich habe trainiert, damit zu leben, und bin dadurch im Alltag genauso schnell wie Menschen ohne Sehbehinderung. Digitale Lupen und das Heranzoomen mit dem Handy helfen enorm – so sehr, dass ich auch mit den komplexesten 3D-Programmen arbeiten kann.
Wie sieht Dein kreativer Prozess von der Idee bis zum fertigen Werk aus?
Oft starte ich mit einer Idee in Houdini, etwa Wasser im Kreis zu simulieren. Bei der Umsetzung fallen mir spannende Zwischenschritte auf, die ich dann weiter ausarbeite. Das finale Motiv setze ich im 3D-Raum fotografisch in Szene – mit Licht, Kamera und bewusster Komposition.
Welche Technologien oder Innovationen haben Deinen kreativen Prozess am meisten beeinflusst?
Das Lernen von Houdini. Es hat nicht nur meine technischen Möglichkeiten erweitert, sondern auch mein Denken grundlegend verändert. Heute löse ich Probleme oft mit der strukturierten Logik, die ich dort gelernt habe.
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Barrierefreiheit als Grundlage für gutes Design
Welche gesellschaftlichen Barrieren hast Du aufgrund Deiner Behinderung erlebt?
Ich komme gut durch den Alltag. Viele Dinge funktionieren besser, als oft angenommen wird. Durch meine Sehbehinderung durfte ich schon ab der 6. Klasse digital mitschreiben – und musste extrem schnell darin werden. Diese Fähigkeit hilft mir heute im Berufsleben enorm.
Wie können Unternehmen und die Gesellschaft besser auf Menschen mit Behinderungen eingehen?
Indem sie konsequent Barrierefreiheit umsetzen. Ohne Barrierefreiheit kommen Menschen mit Behinderung nicht einmal rein. Und weil fast alle Behinderten im Laufe des Lebens eine Behinderung entwickeln, kann es alle treffen.
Welche Rolle spielt Inklusion in der Kunst- und Designwelt?
Inklusion verbessert das Design für alle. Wenn Menschen mit Behinderung von Anfang an im Gestaltungsprozess einbezogen werden, entstehen Lösungen, die verständlicher und zugänglicher sind.
Wie wichtig sind barrierefreie Technologien für die Kreativbranche?
Sie sind der Schlüssel. Ohne Barrierefreiheit bleibt eine große Zahl an Talenten ausgeschlossen.
Was würdest Du jungen Menschen mit Behinderungen raten, die in die Kreativbranche wollen?
Man braucht einen unbändigen Wunsch, gestalten zu wollen – und darf niemals aufgeben.
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Zukunftsperspektiven: Chancen durch Technologie und gesellschaftlichen Wandel
Wenn Du unbegrenzte Ressourcen hättest, welches Traumprojekt würdest Du umsetzen?
Ich würde mehr politische Kunst in 3D erschaffen.
Wie siehst Du die Zukunft der 3D-Design- und Fotografiebranche?
Ich bin optimistisch. Die Ergebnisse der Masterarbeit von Vanessa Estrella Göttle zeigen, dass neue Technologien wie KI oft anders genutzt werden, als ursprünglich befürchtet.
Welche Rolle würdest Du in einer idealen, barrierefreien Welt spielen?
Ich bin zufrieden, so wie ich bin – würde mich aber sehr über KI-generierte Hörbücher und einen besseren öffentlichen Verkehr freuen.
Welche Technologien wünschst Du Dir, um Deine kreative Vision besser verwirklichen zu können?
Tools sollten durchgängig barrierefrei sein. Zwar kann ich viel mit Bildschirmlupen kompensieren, aber viele andere Menschen mit Behinderungen können das nicht.
Wenn Du eine Sache in der Welt verändern könntest, welche wäre das?
Ich würde die Gesundheit der ärmsten Menschen der Welt verbessern. Gesundheit ermöglicht Bildung – und Bildung ermöglicht Wohlstand. William MacAskill beschreibt in seinem Buch »Gutes besser tun« sehr eindrucksvoll, wie wir diesem Ziel näherkommen können.
Barrierefreiheit & Design: Die Impuls-Themen im Überblick
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