Virtual Reality hat sich vom Nischenthema zum Hype entwickelt. Was es mit der Gestaltungsdisziplin VR Design auf sich hat, welche Ausbildungen es gibt und wie die Berufsaussichten sind …
Virtual Reality (VR) als Buzzword kennt heute jeder. Viele hatten in den vergangenen Jahren auch schon mal irgendein brillenartiges Gerät auf dem Kopf. Das Thema ist aber sehr viel älter. Was heute als VR bezeichnet und heiß diskutiert wird, ist im Wesentlichen in drei Entwicklungsschüben entstanden. Als konzeptioneller Vater der künstlichen Realität gilt Ivan Sutherland. Er beschrieb 1965 in »The Ultimate Display« ein multisensorisches Interface, durch das man vollständig in eine computergenerierte Umgebung eintaucht, die von der realen Welt nicht mehr zu unterscheiden ist. Schon 1968 präsentierte Sutherland mit dem Sword of Damocles einen VR-Prototyp – der Begriff Virtual Reality wurde aber erst 1987 von Jaron Lanier geprägt. Lanier entwickelte unter anderem VR-Brillen mit dem (heute sehr vertraut klingenden) Namen EyePhone. 1991 kostete das HRX-Modell 49 000 US-Dollar. Ab 1990 entstanden aber auch VR-Spielhallen und preiswerte Geräte wie Sega VR und Nintendos Virtual Boy.
VR ist die perfekte Spielwiese für Designer, die von Grund auf neugierig sind und gerne interdisziplinär und experimentell arbeiten – also Allrounder und Abenteurer.
VR ist massentauglich
Auf großen Hype und unreife Hardware folgten kommerzielle Flops, Ernüchterung und Stillstand, bis im Jahr 2013 zwei neue, brillenartige Wearables auf den Markt kamen: Google Glass und Oculus Rift. Seither sind dutzende Devices erschienen, von Mobile- bis Roomscale-VR – sowohl interaktiv als auch passiv. Microsoft brachte mit HoloLens ein Mixed-Reality-Device heraus, und Mozilla und Google Chrome entwickeln WebVR für den Browser. 2016 haben Millionen Menschen das Augmented-Reality-Game »Pokemon Go« auf ihrem Smartphone gespielt, und Apples ARKit macht aus jedem iPhone ein natives Augmented-Reality-Device.
Die wachsende Zahl an Geräten bietet vielfältige gestalterische und kommerzielle Möglichkeiten und hält mindestens ebenso viele neue Buzzwords bereit. Forschung wie Industrie diskutieren weiterhin über eine gemeinsame Definition von VR, die Übergänge sind fließend. Zumindest einige konzeptionelle Unterschiede kann man aber klar benennen, etwa mithilfe des Realitäts-Virtualitäts-Kontinuums von Paul Milgram, Professor am Department of Mechanical and Industrial Engineering der Universität von Toronto. Es beschreibt eine durchgängige Skala für alle konzeptionellen Ansätze immersiver Medien, von Designobjekten in der realen Welt bis zur Gestaltung vollständig virtueller Realitäten (siehe Grafik unten). Für den Rest dieses Artikels verwenden wir zugunsten der Lesbarkeit »VR« als Abkürzung für alle Spielarten.
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Robin Hunicke, Produzentin des vielfach prämierten Spiels »Journey«, sagt über ihr neues Projekt »Luna«, eine Art interaktive Fabel: »On the PC, this is the game I designed. In VR, it’s the world that we imagined.« Die meisten Designer bezeichnen ihre VR-Projekte ganz bewusst nicht als Spiel, App oder Produkt, sondern als »Experience«. Denn der wichtigste Faktor und die Gemeinsamkeit bei allen VR-Varianten ist, dass deren Schöpfer versuchen, möglichst multisensorische Erlebnisse zu gestalten, deren immersive Qualität deutlich stärker ist als bei heutigen grafischen User Interfaces (GUIs).
Immersive virtuelle Umgebungen sind sehr viel komplexer in der Interaktion als die heute verbreiteten GUIs – und fühlen sich dennoch einfacher und natürlicher an. Daher nehmen VR Designer selten Rücksicht auf Genres oder gelernte Interface-Metaphern. Während User Experience Design als Disziplin viele Prinzipien aus der Gestaltung von Printerzeugnissen übernimmt, macht VR Design vornehmlich Anleihen beim Film. Wobei die Nutzer in VR körperlich präsente, handlungsmächtige Hauptdarsteller sind.
Als VR Designer hat man enorme Freiräume für Forschergeist und Spieltrieb.
Ein Beruf für Allround-Abenteurer
VR-Experiences müssen filmisch gedacht werden. Und räumlich. Und interaktiv. Das stellt große Anforderungen an VR Designer. Sie müssen UX- und Motion Design beherrschen und zugleich als Szenografen der virtuellen Welt fungieren sowie als Regisseure des individuellen Bedienungserlebnisses. Die Gestaltungsmöglichkeiten erweitern sich rasant, und etablierte Konventionen gibt es kaum. Zum Beispiel bei der Adaption des (Maus-)Klicks: Er wird bei mobilen VR-Systemen wie Google Cardboard oder Daydream oft durch bewusste Blickfixierung auf ein interaktives Objekt ausgelöst. Microsofts HoloLens dagegen nutzt als Klick die Gestenerkennung der sogenannten Air-Tap-Bewegung von Zeigefinger und Daumen. Gängige VR-Brillen wie Vive, Oculus und PSVR verwenden wiederum Handcontroller mit Hardwarebuttons, durch die man virtuelle Objekte direkt anfassen kann.
Oder auch das Scrolling: Die Anfang 2017 veröffentlichte Demo Freedom Locomotion ist vielleicht das erste Bewegungs- interface in VR, das rund läuft und sich mittels Arm- und Rumpfbewegungen bedienen lässt, sodass es sich sehr natür- lich anfühlt. Es wurde nicht von Facebook oder Google entwickelt, sondern stammt aus George Kongs Ein-Mann-Unternehmen Huge Robot.
Selbst grundlegende Designkonzepte wie Klicken oder Scrollen brauchen also neues kreatives Denken für eine Übersetzung der Nutzungsprinzipien in die VR-Welt. Für VR Designer eröffnen sich dadurch enorme Freiräume für Forschergeist und Spieltrieb.
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Gute Programmierer müssen VR Designer nicht sein, aber ein technisches Verständnis sollte vorhanden sein. Tools wie Unity und Unreal Engine sind leicht zu bedienen und zudem preisgünstig, sodass der Einstieg ins Development relativ leichtfällt. Das ist hilfreich, denn Prototyping ist in dem Beruf ein Muss. Schnelles Testen und Dazulernen ist der beste Weg, neue Ideen zu beurteilen, wenn es keine tradierten Gestaltungsregeln gibt. Und durch die Erlebnisqualität von VR macht das Testen sogar richtig Spaß.
Das professionelle Arbeitsfeld für VR Designer hat sich in den letzten Jahren fast explosionsartig erweitert. Nach Einschätzung von Simon Graff, VR-Experte und Head of Immersive Media bei ROBA Impact in Hamburg, suchen viele etablierte deutsche Agenturen gezielt nach Kreativen mit VR-Erfahrung. Oder User-Experience-Konzepter werden intern auf VR »umgelernt«. Denn für klassische Designer ist die Einstiegshürde niedrig: 2D- sowie 3D Art für VR lässt sich mit bekannter Software wie Photoshop, Sketch, Maya et cetera ohne Weiteres erstellen. Graffs wichtigster Rat für den Einstieg: »Verschreibe dich dem life long learning. Stell die Dinge in Frage, experimentiere, wage Neues. Dann eröffnen sich innerhalb der Industrie viele Möglichkeiten, ganz egal, was du studiert hast. Denn für VR brauchen wir alle: Denker, Designer und Techniker.« Aus diesem Grund ist VR die ideale Spielwiese für Designer, die von Grund auf neugierig sind und gerne interdisziplinär und experimentell arbeiten – VR benötigt Allrounder und Abenteurer gleichermaßen.
Das Gestaltungsfeld VR wächst stetig, neben der Erlebnispark- und Computerspiele-Industrie herrscht Aufbruchsstimmung in vielen Branchen. Fast wöchentlich werden neue VR-Experiences in Bereichen wie Bildung, Industrie und Medizin vorgestellt, etwa zur Bekämpfung von Phobien oder zur Wartung hochkomplexer Maschinen. Nahezu etabliert ist mittlerweile der VR-Journalismus. Von »New York Times« über CNN, »Guardian« bis Al Jazeera: Weltweit veröffentlichen große Medienhäuser immer wieder beeindruckende VR-Dokumentationen wie »The Fight for Falluja« von der »New York Times«, die den Betrachter unmittelbar in den Kampf um die irakische Stadt hineinversetzt.
Die meisten Designer bezeichnen ihre VR-Projekte als »Experience«. Denn die wichtigste Gemeinsamkeit aller VR-Varianten sind die multisensorischen Erlebnisse.
Fast jeder mediale Content kann von den neuen, Empathie weckenden Qualitäten von Virtual Reality profitieren – auch das kommerzielle Marketing. Ein besonders gelungenes Beispiel ist die VR-Experience »Field Trip to Mars«, die durch das Ersetzen der Fenster durch Displays die Passagiere eines fahrenden Schulbusses in eine virtuelle Marslandschaft versetzt. Die Anwendung wurde von der Kreativagentur McCann in Kooperation mit dem Special-Effects-Studio Framestore für das Rüstungs- und Technologieunternehmen Lockheed Martin umgesetzt, das dadurch auf seine Tätigkeiten im Bereich Raumfahrt aufmerksam machte. Aber auch für künstlerische Projekte bieten sich durch VR neue Ausdrucksmöglichkeiten, die etwa der BAFTA- und Emmy-Award-prämierte Kurzfilm »Notes on Blindness« nutzte, der den Betrachter immersiv an der kognitiven und emotionalen Erfahrung des Erblindens teilhaben lässt.
Die Zukunft von und mit VR zu gestalten ist eine ebenso spannende wie verantwortungsvolle Aufgabe für VR Designer.
Wie bei allen zügig voranschreitenden Technologien stellt sich auch bei VR die Frage, ob alles, was technisch machbar ist, auch ausgestaltet werden muss oder sollte. Dieser Frage geht etwa der dystopische Konzeptfilm »Hyper-Reality« von Keiichi Matsuda nach, in der physische und virtuelle Realität gänzlich verschmelzen – mit eher abschreckendem Ergebnis. VR ist das sensuell wirkmächtigste Medium, das je entwickelt wurde, und während die jetzt schon eindrucksvolle Technik rasant voranschreitet, beginnt die breitere Debatte über soziokulturelle Auswirkungen gerade erst. Die Zukunft von und mit VR zu gestalten ist eine spannende und verantwortungsvolle Aufgabe für Designer, und auf dem Weg dahin gibt es viel zu entdecken und zu erfinden.
Der Autor
Prof. Michael Jonas hat langjährige Erfahrungen in Digital- und Kreativagenturen, unter anderem als Creative Director bei Jung von Matt in Hamburg. Er leitet den Studiengang Digital Design an der Brand Academy Hamburg und arbeitet als Gastprofessor für Mediendesign/Multimedia an der HBK Braunschweig.
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Virtual Reality und die Neurowissenschaften: Das müssen VR-, UX- und Interaction Designer wissen. Internationale Studien und Experimente, Ethikstandards
Das die Technologie in der breiten Gesellschaft angekommen ist, kann man (auf humorvolle Art) daran ablesen, dass einige VR Brillen mittlerweile auf Wühltischen und nur knapp oberhalb von Hornhautentfernern angeboten werden. https: //flic.kr/p/28boSqA
Das die Technologie in der breiten Gesellschaft angekommen ist, kann man (auf humorvolle Art) daran ablesen, dass einige VR Brillen mittlerweile auf Wühltischen und nur knapp oberhalb von Hornhautentfernern angeboten werden. https: //flic.kr/p/28boSqA