Die Möglichkeiten der neuen Variable Fonts verleiten unseren Kolumnisten Jürgen Siebert zu einem waghalsigen Vergleich.
Die Fonthersteller diskutieren gerade mit Leidenschaft den neuen OpenType-Standard 1.8, auch bekannt unter dem Schlagwort »Variable Fonts«. Er soll nicht nur das Erstellen von Schriften, sondern auch deren Verwendung revolutionieren – und ausnahmsweise ist »Revolution« hier keine Übertreibung. Schriften werden zu Räumen, ihr Verhalten wird multidimensional. Doch was heißt das genau?
Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel, einer Sans-Familie mit acht Strichstärken von Light bis Heavy, das sind heute acht einzelne Fonts. Das neue OpenType 1.8 interpretiert die Eigenschaft »Strichstärke« als eine Achse mit den Endpunkten Light und Heavy. Die Werte dazwischen lassen sich (theoretisch) stufenlos einstellen, sodass aus acht Strichstärken 10, 20 oder 100 werden können.
Stellen wir uns nun vor, dieselbe Familie böte die fünf Buchstabenbreiten Compressed, Condensed, Normal, Wide und Extra Wide. Im normalen OpenType-Familienleben wären wir dann bei insgesamt 40 Fonts. Das neue Format dagegen installiert einfach eine zweite Achse (Buchstabenbreite) in derselben Fontdatei, und auch hier sind die Zustände stufenlos regelbar. Ergebnis: immer noch ein Font, der mindestens 40 klassischen Schnitten entspricht, eigentlich jedoch auch 500 oder 5000 Schnitte bereithält, deren Strichstärke und Buchstabenbreite sich auf einer virtuellen Ebene mischen lassen. Selbst einen dreidimensionalen Schriftenraum vermögen wir uns mit unserem mathematischen Schulwissen noch vorzustellen, aber es wird bald auch vier-, fünf- und sechsdimensionale Räume geben.
An dieser Stelle muss ich die beiden Gründer von Underware ins Spiel bringen, die Mitte April auf der TYPO-Labs-Konferenz die Elastizität des neuen Variable-Fonts-Formats auf die Probe stellten. Eigentlich war ihr Vortrag aus nackter Angst geboren . . . der Angst vor 64 000 Designachsen, die das Format theoretisch bereitstellt. Dann ließen Akiem Helmling und Bas Jacobs sich einfach von dieser Grenzenlosigkeit inspirieren und konstruierten mit skurrilen Achsen und Metareglern Schriften, deren Lettern sich in andere Lettern verwandelten oder auf Musik reagierten. Irgendwann hatten sie ihre gesamte Schriftenbibliothek in einen einzigen variablen OpenType-Font eingebaut . . . »Und wenn man die nun mit unseren Reglern mischt, entstehen all jene Schriften, die wir in den kommenden Jahren noch herausbringen wollten«, so Bas Jacobs’ humoristisches Fazit.
Schon die pure Definition des neuen Fontformats überfordert aktuell unsere Fantasie
Das Publikum zeigte sich amüsiert, aber auch ratlos. Tatsächlich überfordert die pure Definition des neuen Formats aktuell unsere Fantasie. Kenner der Branche ahnen aber, dass sein Nutzen die digitale schriftliche Kommunikation in naher Zukunft in ungeahnte Dimensionen bewegen wird. Aus Erfahrung weiß ich, dass Schriftingenieure sehr experimentierfreudig sind und nie verlegen im Überschreiten von Grenzen.
Ich selbst versuche, mir die Multidimensionalität mit einer Analogie aus der Musikindustrie verständlich zu machen. Am Beispiel des Beatles-Albums »Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band«, das gerade seinen 50. Geburtstag feiert. Mal angenommen, das Album mit seinen 13 Songs wäre eine Schriftfamilie mit 13 Schnitten, so ließe es sich gemäß der Variable-Fonts-Theorie in einem Song unterbringen, wobei man alle »Sgt. Pepper’s«-Stücke nicht nur einzeln anhören, sondern auch noch untereinander mischen könnte, worauf neue Songs im Stil von »Sgt. Pepper’s« entstünden.
Ein Megafont im Sinne von Underware hieße übersetzt: Neben »Sgt. Pepper’s« ließen sich – mit 64 000 Musikachsen – auch alle anderen Alben des Jahres 1967 in einem Song abbilden, und dann könnte man aus »Lucy in the Sky with Diamonds« und »She’s a Rainbow« von den Rolling Stones einen völlig neuen Song im Sound von 1967 mixen. Es braucht nur wenige Achsen mehr, um die Musik von 1950 bis heute ebenfalls in den einen Song hinzupacken, mit dem sich dann die Musik von morgen komponieren ließe. Können Sie mir noch folgen? Ich nicht mehr so ganz . . . aber ich freue mich auf die ersten variablen Schriften.
Übrigens sind einige Variable Fonts bereits verfügbar. Welche dass sind und was Sie über Browser-Support und Font-Handling variabler Fonts wissen müssen, lesen Sie hier.
Lesen Sie auch, was mit Variable Fonts jetzt schon möglich ist …