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Queen of Queer: Missy ist nicht schön, aber richtig

In seiner Designkritik-Kolumne erklärt Johannes Erler, warum das nach herkömmlichem Verständnis nicht »schön« gestaltete »Missy Magazine« bestes Editorial Design ist.

Die Mutmaßung, Print sei dead, ist selbstverständlich Quatsch. Nie gab es so viele Magazine. Nie sah Editorial Design besser aus. Es ist ja annähernd unmöglich geworden, Zeitschriften nicht schön zu gestalten. Das uferlose Angebot an Typografie, Produktionstechnik, Sonderverarbeitungsformen und Papiersorten macht alles möglich. Dazu gibt es hau­fenweise großartige Vorbilder. Wer heute also Maga­zingestaltung versemmelt, handelt fast schon fahrlässig. Sogar die »ADAC Motorwelt« sieht anständig aus – und das will was heißen!

Mein Problem inmitten des dichten Blätterwalds ästhetischster Supermags von »Flow« über »ramp« bis »TUSH« ist nun: Es fängt an, mich zu langweilen. Ist alles zu schön, um wahr zu sein. Gedruckter Puderzucker. Eskapismus auf Papier. Und hier kommt »Missy« ins Spiel, das »Magazin für Pop, Politik und Feminismus«, das kein Frauenmagazin ist und auch gar nicht so aussieht, wie man sich ein solches vorstellt, und dennoch fraulicher als »Brigitte«, »Vogue« und »Bunte« zusammen.

Hirn. Als ich Artdirektor beim »stern« war, gab es häufig Diskussionen um die Frage, wie Editorial Design für Frauen geht. Der »stern« wollte weiblicher werden – auch im Layout. Aber wie hätte das aussehen sollen? Nicht so eckig vielleicht? Wärmere Farben? Weniger Gewalt? War natürlich alles Blödsinn (apropos: Den »stern«-Ableger »Crime«, der nur von den allerschrecklichsten Dingen handelt, kaufen zu 80 Prozent Frauen).

»Wie sieht denn Feminismus aus?«, fragt auch Daniela Burger, Artdirektorin beim »Missy Magazine«, und macht klar, dass sich die Redaktion nicht formal an dieser Frage abarbeiten mag, umso mehr je­doch inhaltliche Lösungen sucht. Und ein fast schon provozierend einfacher Ansatz ist: Alle Texte, Fotos und Illustrationen im Heft stammen von Frau­en (Ausnahmen bestätigen die Regel). Dabei kommt dann natürlich kein Traum in Pink und Plüsch raus, sondern ein Heft, das sich permanent bewegt. Das rumpelt, rotzt und schwitzt, aber auch feiert, lacht und schwelgt. Ein Heft, das manchmal fast unangenehm ehrlich ist. Kein hübsches Heft, wirklich nicht, doch dafür ein unendlich lebendiges.

»Eine Frau illustriert The­men wie etwa Schwangerschaftsabruch oder Husband Stitch eben anders als ein Mann«, sagt Daniela Burger.

Eigentlich logisch.

Hand. Wer High-End-Typografie liebt, perfektes Spa­tionieren also, ausgewogene Zeilenabstände, gelun­gene Proportionen und ungewöhnliche Schriftwahl, ist falsch bei »Missy«. Auch Connaisseure klassi­scher Fotoästhetik oder süßer Illustration werden hier sel­ten fündig. Das Heft wirkt häufig sperrig und eckig, die Anordnung von Elementen geradezu willkürlich. Ein Gestaltungssystem, ein Raster oder eine visuel­le Dramaturgie sind nicht gleich zu erkennen. Ob das Absicht sei, frage ich Daniela Burger und habe den Eindruck, dass sie diese Frage wundert. »Es geht nicht darum, sexy zu sein. Es geht darum, Stereotype zu vermeiden und divers zu sein«, sagt sie, »aber natürlich möchte ich, dass das Heft gesehen und gelesen wird. Ich arbeite nicht absichtlich dagegen an.«

Und das ist es: Diese Gestaltung, die offen gegen sogenannte Gestaltungsregeln verstößt, aber eben nicht absichtlich ugly sein will, entsteht aus tiefs­tem Selbst­verständnis. Das Design fügt dem Heft keinen besonderen Aspekt hinzu, es ist vielmehr ele­menta­rer Bestandteil eines kämpferischen, fe­mi­nis­­tischen Konzepts, dem man auf jeder Seite anmerkt, dass es um etwas geht.

Queerness als Empowerment. Form follows function. Klingt so einfach, ist es aber nicht. Man muss das wollen und können.

Herz. Manchmal kaufe ich Zeitschriften, weil ich sie schön finde, blättere darin – und lese keinen einzi­gen Text. Dann gibt es welche, die ich gerne lese, de­ren Ge­staltung mir jedoch nicht gefällt. Das ist nicht dramatisch, aber es ärgert mich, weil ich als Desig­ner Potenzial erkenne. Und sehr selten entdecke ich Ma­gazine, in denen Konzept, Inhalt, Schreibstil, Gestal­tung und Bebilderung in vollkommenem Einklang sind und die mir so das höchste Maß an Ehrlichkeit und Verlässlichkeit geben. Ich finde deshalb nicht alles toll, was drinsteht, aber ich kann es ernst nehmen. »11 Freunde« ist so ein Beispiel. Oder die »ZEIT«. Ich nenne solche Hefte »Loved Magazines«. »Missy« ge­hört für mich definitiv dazu. »Missy« ist nicht schön. Aber »Missy« ist richtig.

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Zur Kolumne: »Hirn« meint die nüchterne, rationale Betrachtung. »Hand« untersucht die handwerkliche Qualität. »Herz« steht für den emotionalen, persönlichen Eindruck. Hier geht’s zu den anderen Beiträgen aus der Kolumne »Erlers Designkritik«.

Johannes Erler ist Partner des Designbüros EST ErlerSkibbe­Tönsmann in Hamburg, Mitglied im Art Directors Club Deutschland, Juror in zahlreichen Designjurys, Autor von Büchern über Design und Moderator der Designkonferenz TYPO Berlin | © Foto: Robert Grischek

 

 

 

 

 

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