Jürgen Siebert über die Psychologie hinter der Mengenformel S/M/XL und anderen raffinierten Tricks des Kapitalismus.
In meinem Kino gibt es Popcorn in drei Größen: Normal für 4,79 Euro, Mittel für 5,69 Euro und Maxi für 6,59 Euro. Die Preise unterscheiden sich nur um je 90 Cent, die Mengen verdoppeln sich dabei. Ich bekomme also das Vierfache an Popcorn für nur 1,80 Euro Aufschlag. Das bringt mich in einen Konflikt – und das mit voller Absicht.
Der reine Material- und Herstellungswert für eine Portion Popcorn liegt im Bereich weniger Cent. Diese Rechnung ist natürlich unvollständig, denn mit den Speisen im Kino werden selbstverständlich auch Serviceausgaben gedeckt, die Miete und Betriebskosten für die Immobilie. Und mit Sicherheit wird auch der ein oder andere Film bezuschusst.
Es soll hier gar nicht um den Popcorn-Verkaufspreis gehen, sondern um die Psychologie hinter der Mengenformel S/M/XL. Sie begegnet uns ja nicht nur im Kino, sondern in der gesamten Systemgastronomie, seien es Coffeeshop-, Pizza-, Sandwich- oder Donut-Ketten. Das System steckt bei ihnen in der Geschäftsidee – insbesondere auch in einer ausgeklügelten Preisgestaltung (inklusive Menüs, Rabatten und Coupons), die Entscheidungsdruck aufbaut. Die hohe Kunst des Kapitalismus besteht darin, den Verstand der Verbraucher auszuschalten und sie auf raffinierte Art und Weise von ihrem Geld zu trennen.
Zurück zum Popcorn. Das simple Anliegen des Kinobetreibers: Er will mir eine Maximalsumme für eine Portion Popcorn abknöpfen. Keine 3, keine 4, keine 5 Euro … nein, das Ziel sind unverschämte 7 Euro. Und so geht’s: Setze den Preis für die kleinste Portion unverschämt hoch an. Offeriere zwei weitere Größen, die nur unwesentlich teurer sind, aber sichtbar mehr Menge bieten. Das Ziel ist, die große Menge zu verkaufen, die in der Herstellung kaum mehr kostet, und somit den maximal möglichen Geldbetrag vom Käufer zu erhalten.
Die Psychologie dahinter: Wer die kleine Portion kauft, muss sich selbst für einen großen Idioten halten, wenn er den Durchschnittspreis berechnet, was keiner macht. Die mittlere Portion ist nicht wirklich zum Verkaufen da, sondern eher ein Brücken-Dummy. Allein bei der großen Portion ergeben Menge und Verkaufspreis ein (fast) anständiges Verhältnis. Wer sie kauft, bekommt gratis das Gefühl mitserviert, nicht verarscht worden zu sein.
So weit die Basistheorie. Doch die feinkapitalistischen Methoden fangen jetzt erst an. Süßes Popcorn macht durstig, folglich müssen Getränke her. Diese werden geschickt mit dem Popcorn-Angebot zu Menüs kombiniert, die enorme Preisvorteile versprechen. Die Menge der Kombinationen soll uns weniger dabei helfen, das passende Angebot zu finden – sie dient in erster Linie unserer Verwirrung. Auch die Menüs spielen mit der Mengendynamik, deren einzige Absicht es ist, noch mehr Euro einzustreichen.
Die Tyrannei aufeinanderfolgender Entscheidungen kostet Zeit. Und die setzt uns an der Kasse unter Druck, vor allem, wenn hinter uns eine Schlange ungeduldiger Besucher wartet. Unsere Begleiter zu fragen, ob sich jemand an einer großen Portion beteiligen möchte, scheint auf den ersten Blick eine kostensparende Strategie – bis zur Antwort: »Ich mag kein Popcorn.« Für weiteres Fragen bleibt keine Zeit, noch mal alles durchrechnen geht auch nicht … genau das ist der Sinn dieser Kombiangebote: Nicht denken, kaufen!
Wohin der Trend zu Maxi-Größen und -Menüs führt, wissen wir aus dem Mutterland des Kapitalismus. Heute ist jeder dritte US-Amerikaner fettleibig, und in den kommenden Jahren soll ihre Zahl weiter wachsen. Eine der Ursachen ist einer Studie der Harvard-Universität zufolge die leichte Verfügbarkeit ungesunder Lebensmittel. Die Forscher haben gar einen Höhepunkt der Fettsuchtepidemie ermittelt, der 2050 erreicht sein soll, wenn 42 Prozent der US-Bürger fettleibig sind.
Es besteht also keinerlei Hoffnung auf ein Ende der Maxi-Menü-Spirale. Ja, die Schraube wird sogar bald überdreht sein. Der Tag kommt, an dem eine kleine Tüte Popcorn teurer sein wird als eine Maxi-Tüte. Und angesichts dieser Vision wird sofort klar, wie wir uns vom Diktat des XXL-Wahns befreien können. Ein mündiger Verbraucher kauft nur das, was er möchte … oder verträgt oder beim Betreten eines Ladens bereits im Kopf hatte. Vergesst Rabatte und rechnet nicht erst lange herum, zahlt einfach den höheren Preis für die kleine Menge und fühlt euch gut dabei.
Und was tun, wenn uns ein Werbe- oder Designjob in einen Gewissenskonflikt bringt? »Ablehnen!«, sagen all jene, die selbst keine Chance auf solche Jobs haben. Ich plädiere dagegen für einen engagierten Dialog mit dem Auftraggeber, egal, wie er dann ausgeht. Das klingt utopisch. Utopisch ist auch, sich zu verweigern im Glauben, damit die Welt zu verbessern. Realistisch ist, unsinnige Produkte links liegen zu lassen.