eute möchte ich mal die Behauptung aufstellen, dass sich deutsche Verlage lediglich am Rande für gute Typografie interessieren, und diese Behauptung mit vier Recherchen aus den vergangenen zwanzig Jahren bekräftigen.
Mit »Verlagen« meine ich sowohl die erausgeber von Zeitungen und Zeitschriften als auch die Buchverlage. Ausnehmen möchte ich jene, die sich auf visuelle Themen konzentrieren, also Magazine und Publikationen über Malerei, Architektur, Fotografie und vergleichbarem Augenschmaus in die Welt setzen. Hier, wo das Lesen nicht so wichtig ist, achtet man, zumindest aus ästhetischen Gründen, auf schöne, gut gewählte Schriften.
Vor fast zwei Jahrzehnten begab ich mich mit dem niederländischen Schriftgestalter Gerard Unger auf eine frustrierende dreitägige Safari durch die Hallen der Frankfurter Buchmesse. Unger hatte gerade eine neue Schrift entwickelt, die nicht nur gut lesbar war, sondern mit der sich auch richtig viel Papier (= Geld) sparen ließ. Seine Gulliver war äußerst platzsparend konstruiert – mit großer Mittellänge und schmalen Glyphen –, sodass sie in 8,5 Punkt so groß erschien wie eine 10-Punkt-Times und auch noch besser lesbar war.
Unsere »Opfer« waren ein Dutzend der großen Papierverbraucher unter den deutschen Buchverlagen, darunter Reclam, Bertelsmann, dtv, Fischer und Goldmann. Wir sprachen mit Herstellern und Setzern, wobei wir eine Menge Körbe kassierten. Um es genau zu sagen: null Erfolg. Kein Interesse für eine neue Typografie. Und das hatte nicht mal mit den vergleichsweise geringen Lizenzkosten für die Schrift zu tun. Meist kamen wir gar nicht erst auf dieses Thema zu sprechen.
Stattdessen sammelten wir ungewollt Anekdoten über Abhängigkeiten und abstruse Begründungen für eine »Das haben wir schon immer so gemacht«-Strategie. Die dämlichsten Argumente waren »Wir nehmen die Schrift, die gerade da ist« und »Das lassen wir unsere Setzerei entscheiden«, womit keine Abteilung im Haus gemeint war, sondern wechselnde Dienstleister. Reclam gab offen zu, dass ihre gelben Heftchen in ständig wechselnden Schriftarten erscheinen – und dass ihnen (dem Verlag) das herzlich egal sei.
Was uns aber richtig frustrierte, das waren die gleichgültigen Blicke, die wir ernteten, als Gerard Unger anfing, über Vorzüge wie Lesbarkeit und Platzersparnis zu sprechen. Wer ihn einmal auf einer Typografiekonferenz erlebt hat, weiß, dass kaum jemand leidenschaftlicher über Schriftdesign reden kann als er.
Zweiter Beleg. Seit drei Jahren ziehe ich mit einer Vortragsreihe durch die Republik, in der angesehene Gestalter über das Maßschneidern von Schriften und über Fonttechnik referieren. Für meine eigene Präsentation habe ich rund 1800 Corporate-Font-Jobs aus 15 Jahren ausgewertet: vom Entwurf eines zusätzlichen Zeichens für einen Stromanbieter über Spracherweiterungen im europäischen Einzelhandel bis hin zur Entwicklung einer neuen, exklusiven Schriftfamilie. Beleuchtet man diese Dienstleistungen nach Branchen, so fällt auf, dass Verlage praktisch keine Rolle spielen – mit Ausnahme der »Süddeutschen Zeitung«. Sie publiziert als erstes und immer noch einziges deutsches Nachrichtenmedium mit der eigenen, unverwechselbaren Exklusivschrift auf allen vier Kanälen: Print, E-Paper, Web und App.
Interessante Abfallerkenntnis meiner unrepräsentativen Umfrage: Es sind die ingenieur- und technikgetriebenen Unternehmen und Marken, die höchste Ansprüche an ihren typografischen Auftritt stellen, beispielsweise eine Fahrradmanufaktur, ein internationaler Wetterdienst oder Maschinenbauer und Elektronikhandelsketten.
Die Begegnung mit einem Frankfurter Verleger vor acht Wochen in Berlin hat mich wieder an die Buchmessen-Schlappe von damals erinnert. Es wurde ein schön gestaltetes Buch vorgestellt, das vor allem durch seine Illustrationen besticht, aber auch ordentlich gesetzt ist. Als ich mich dem Verlagsleiter und Lektor vorstellte, musste ich weiter ausholen, als ich das bei einen Verlagsboss mit 15 Jahren im Amt erwartet hatte. Er war schlicht überrascht, dass es einen Laden für Schriften gibt, ja sogar der Beruf des Schriftentwerfers schien ihm absolut fremd zu sein. Dies schloss ich jedenfalls aus seinem Blick, der mich ach so sehr an die Herstellerkollegen auf der Buchmesse erinnerte.
»Der Fisch stinkt vom Kopf aus« heißt es umgangssprachlich, wenn man die Ursache eines Phänomens auf höherer Ebene vermutet. Sicher gilt das für viele Aspekte der Unternehmenskultur. Auch bei der typografischen Kultur der Verlage scheint sich die Redewendung zu bewahrheiten. Gleichwohl gibt es auf den unteren Ebenen immer Spielraum, sich der Ignoranz von oben zu entziehen. Solange niemand gehindert wird, in seinem Job gute Arbeit zu leisten, besteht kein Grund, schlechte Arbeit abzuliefern. Selbst wenn sie von oben nicht geachtet wird. Wie im Fall der Herstellerin des zuletzt zitierten Frankfurter Verlags. Sie ist glücklich, weil die Autoren sie lieben und die Bücher vorzügliche Kritiken ernten.
Lieber Herr Sieber, ich möchte ihnen meinen Respekt ausdrücken. Nach einem Messerundgang vor fast zwanzig Jahren, einem Gespräch mit einem (!) Verleger letzten Herbst und ihren Leseeindrücken als Vielleser, d.h. sie schaffen sicher mindestens fünfzig Bücher von jährlich über 50.000 Neuerscheinungen, sind Sie in der Lage eine derart profunde Einschätzung über die Arbeit aller deutschen Verlage abzugeben. Oder war der Maßstab den Sie bei der Auswertung von Corporate-Fonts-Jobs angelegt haben, vielleicht doch nicht angemessen für die Bewertung von Büchern? Gerne lade ich sie ein in unserem Haus die tägliche Arbeit eines Publikumsverlags kennenzulernen und mit den Herstellern in Dialog zu treten. Vielleicht beurteilen Sie dann das Engagement für jedes einzelne Buch die passende Schrift zu finden doch höher, als zugunsten eines Markenbildes durch Verwendung einer Hausschrift alles über einen Kamm zu scheren. Markus Dockhorn, Herstellungsleitung Piper
Lieber Herr Siebert,
ihre vier Beispiele, die ja in keinster Weise repräsentativ sind, verwundern mich. Ihrer Polemik gegen die Buchverlage will ich ein paar Hinweise entgegenhalten, die dem Ethos meines Berufsstandes vielleicht eher gerecht werden:
Vor zwanzig Jahren, aber auch heute, ist die Frankfurter Buchmesse sicherlich nicht der richtige Ort, um Schriften anzubieten. Haben Sie wirklich geglaubt an den Verlagsständen die Entscheider anzutreffen, die für die Schriftauswahl in Büchern zuständig sind? Es sind naturgemäß die Herstellerinnen und Hersteller in den Verlagen und nicht die Kollegen aus dem Verkauf und Vertrieb, die in vorderster Front dort zu finden sind.
Das Konzept einer einheitlichen Exklusivschrift für alle Erzeugnisse eines Verlages führt in die Irre, weil Buchgestaltung keine Frage werblichen Corporate Designs ist. Es macht ja gerade den Reiz einer jeden Buchgestaltung aus, die dazu passende Schrift auszuwählen. Das neue Konzept der „Anderen Bibliothek“ zeigt hier auch beispielhaft wie eindrucksvoll Buchgestaltung in seiner Gesamtheit sein kann. Wenn Sie sich die leidenschaftlichen Diskussionen in Herstellungsabteilungen über Schriftcharaktere oft anhören könnten, („Nein, die Füßchen bei der Garamond sind für den Roman zu extrovertiert“ oder „Die beiden Schriften mögen sich nicht, sie haben es versucht, aber die Bodoni wird immer herrschsüchtiger, ich muss sie leider aus dem Satz entfernen.“) würden Sie hoffentlich nicht so abfällig von der Ignoranz der Verlage sprechen. Ignoranz gibt es jedenfalls nicht nur gegenüber der edlen Schönheit des Schriftschnitts, sondern auch gegenüber der handwerklichen Leistung von Buchherstellern im Allgemeinen und Setzern im Speziellen.
Schrift ist nur ein Teil in der Buchgestaltung. Ein Teil der zum Ganzen passen muss. Wenn Sie Qualität sehen wollen, so lade ich Sie herzlich ein, sich die prämierten Bücher der Stiftung Buchkunst (auch in Frankfurt und Leipzig auf der Buchmesse) anzusehen, die stellvertretend für gute Buchgestaltung in Deutschland stehen. Dort werden Sie schnell merken, dass die deutschsprachige Buchherstellung es mit hervorragenden Herstellern, Setzern, Papierlieferanten, Druckern und Buchbindern zu tun hat.
Alexandra Stender, Herstellungsleitung Suhrkamp und Insel Verlag
Lieber Herr Siebert,
mag ja sein, dass die Gulliver bei einem Buch mit, sagen wir mal 352 Seiten normal berechnetem Umfang, insgesamt 6-8 Seiten einspart. Soll ich dieser geringen Papierersparnis wegen eine enge, schwer lesbare Schrift einsetzen? Die Seiten so voll stopfen, dass mein Auge keine Chance mehr hat, sich auszuruhen? Vorzugsweise mein gesamtes Verlagsprogramm auf diese (zugegebenermaßen von mir nicht favorisierten und ganz sicher auch nur selten passenden) Gulliver umstellen? Bitte vergleichen Sie hier nicht Zeitungsverlage mit Buchverlagen, lassen Sie einen Verleger sein Geschäft erledigen (Programm gestalten, nicht Schriften einkaufen) und glauben Sie an das Wissen und die Kunst der Herstellungsabteilungen. Hier hat sich einiges getan, seit Sie (vor 20 Jahren!), auf der Suche nach “Opfern” über die Buchmesse gestolpert sind.
Was ist dagegen einzuwenden, dass eine Reihe (Sie führen Reclam an) in unterschiedlichen Schriften erscheint? Ich bin für “Die Andere Bibliothek” zuständig und gerade der Schriftenwechsel – immer schön passend zum Thema (!) des Buches – macht, im Zusammenhang mit differenzierter Gestaltung, den besonderen Reiz dieser Reihe aus.
Es wird immer gut gemachte und weniger gut gemachte Bücher geben. Überlassen wir es unseren Kunden, den Lesern, hier frei zu wählen.
Renate Stefan
Endlich spricht es mal jemand an.
Wer als Gestalter viel mit Buchgestaltung und Typografie zu tun hat – egal ob aus Vorliebe zu diesem Schwerpunkt oder zum Brötchen verdienen oder im Idealfall sogar beidem – und dazu noch gerne und viel liest, der kennt die oben angesprochene Lieblosigkeit, mit der Bücher gesetzt werden.
Eine ältere Ausgabe der »drei Musketiere« war beispielsweise so schlecht gesetzt (minimaler Durchschuss, zu kleine Schriftgröße, irre breite Zeilen, praktisch kein Weißraum zum Rand), dass das Lesen wirklich in Arbeit ausartete. Dabei will ein gutes Buch doch v.a. eins: gern gelesen werden.
Gute Typografie ist eine Inszenierung des Inhalts. Und kann nebenher auch noch Geld sparen, die Umwelt und die eigenen Augen schonen. Letztendlich würden alle gewinnen, Leser wie Verleger.
(Es gibt aber immerhin einige wenige Lichtblicke wie beispielsweise die gebundenen Zafón-Bücher aus dem Fischer-Verlag.)