AGD-Geschäftsführerin Victoria Ringleb schreibt in ihrer Kolumne diesmal über die Kunst, als Designer über das Briefing hinaus zu denken – und wie man damit sogar Unternehmen vor der Insolvenz retten kann …
Stellen Sie sich bitte folgendes Szenario vor: Eine Designerin wird gebeten, innerhalb von zwei Wochen ein Angebot für die Gestaltung einer Fahrhilfe zu machen – und im Übrigen wäre es schön, wenn sie dem Angebot gleich noch ein paar Ideenskizzen beilegen würde.
Das kommt Ihnen bekannt vor und Sie verlieren gerade die Lust, weiterzulesen? Dann lesen Sie erst recht weiter, um diese eingeschränkte Designzone mit mir zu verlassen und zu erfahren, wie die fraglichen Fahrhilfen in der ausgeweiteten Designzone entstanden sind. Denn bei der Designerin Sybs Bauer geht die Geschichte so:
Sybs Bauer fungierte als Beraterin, Moderatorin, Produktgestalterin und Entwicklerin der dafür geeigneten Kommunikationsmittel in einem
Ein kleiner Betrieb entwickelt und produziert Fahrhilfen für Menschen mit körperlichen Behinderungen, die es ihnen ermöglichen, Auto zu fahren und damit mobil zu sein. Der Betrieb muss Insolvenz anmelden. Anders als in vielen vergleichbaren Fällen wird während des Insolvenzverfahrens ein bereits begonnenes Produkt weiterentwickelt, weil sich Mercedes Benz dafür interessiert – wegen des Designs. Nach sechs Monaten findet sich ein Käufer für den Betrieb, und mit dem neuen Eigentümer kommt die neue Fahrhilfe tatsächlich auf den Markt.
Wenn Innovation auf Tradition trifft
Das Unternehmen Petri+Lehr gibt es seit über 100 Jahren. Es beschäftigt heute 18 Mitarbeiter. Seine Fahrhilfen finden wir in allen namhaften deutschen Automarken. Eine wichtige Aufgabe in dem oben beschriebenen Prozess war die Neupositionierung des Betriebes und die daraus resultierende Unternehmenskommunikation nach innen wie nach außen.
Denn bis dahin verstanden sich Petri+Lehr als Werkstatt und Umrüstungsbetrieb – und nun präsentieren sie sich mit einem ausdifferenzierten Portfolio. »Entscheidend dafür, dass heute die wichtigen deutschen Automobilproduzenten die Fahrhilfen meines Kunden kaufen, ist die neue Position am Markt. Petri+Lehr verstehen sich nicht mehr nur als Werkstatt, sondern auch als Entwickler und Produzent von Fahrhilfen«, erläutert Sybs Bauer. Damit das gelingen konnte, musste sie als verantwortliche Produkt- und Kommunikationsdesignerin frühzeitig in den Wertschöpfungsprozess eingebunden werden.
Design spielt eine zentrale Rolle
Dabei fand sie sich schnell und unmittelbar in einer zentralen Rolle wieder, in der sie Beraterin, Moderatorin, Produktgestalterin und Entwicklerin der dafür geeigneten Kommunikationsmittel in einem war. Geschafft hat sie dies in der sehr engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Unternehmensleitung und den Konstrukteuren bei Petri+Lehr sowie – fast noch wichtiger – den künftigen Abnehmern der Fahrhilfen, also mit den Menschen mit Behinderungen, die die Autos fahren, und der Automobilindustrie, die die Fahrhilfen inzwischen sogar als ausgewiesene Produkte von Petri+Lehr in ihren Autos verwendet.
»Ich nenne es gern Inklusion im Fahrzeuginnenraum«
»Die enge Kooperation und schnelle Abstimmung mit den anderen Beteiligten ermöglichten es mir, die Anforderungen an das Design der Fahrhilfen so genau wie möglich zu spezifizieren, denn sie müssen sich in alle Fahrzeugtypen und -größen so einpassen, als hätten sie schon immer dazugehört. Sich dafür mit den unterschiedlichen Wegen von Pedalen, unterschiedlich gestalteten Mittelkonsolen und Cockpits sowie variantenreichen Sitzgrößen und -formen auseinanderzusetzen, war eine spannende Aufgabe«, sagt Sybs Bauer. So entstanden etwa die Handbediengeräte Multima EVO, Multima PRO und MFD Touch. »Ich nenne es gern Inklusion im Fahrzeuginnenraum.«
Mit den Projekten bei Petri+Lehr hat Sybs Bauer die Designzone gleich in mehrfacher Hinsicht ausgeweitet. Entscheidend dabei ist jedoch, dass ihr das gelingen konnte, weil sie als Designerin die Beraterrolle angenommen hat und so das Unternehmen in seiner gesamten Entwicklung kompetent auf dem Weg zum Erfolg begleitet hat.
Victoria Ringleb ist seit 2010 Geschäftsführerin der AGD. Sie hat Kommunikationswissenschaften und Interkulturelle Wirtschaftskommunikation in Jena, Cambridge und Brisbane studiert. Alle weiteren Ausgaben ihrer Kolumne lesen Sie hier. Ein Video mit Victoria Ringleb aus unserer Reihe »PAGE 10×10« gibt es hier.