
Das sind die aktuellen Bildtrends
Wir stecken in einer Phase radikalen Umbruchs – und neue Zeiten brauchen neue Bilder. Von Blurred Lines bis Digital Humans: Hier sind die aktuellen Trends.
Was sich bei verschiedenen Visual Artists ganz unterschiedlich niederschlägt. Statt visueller Vereinfachung und Stilisierung wagen die einen mehr Komplexität und Vielschichtigkeit. Andere legen es darauf an, mit scheinbar einfachen Mitteln bewusst Reibung zu erzeugen. »Die runtergebrochenen, möglichst neutral gehaltenen Figuren in der Illustration der letzten Jahre haben einen guten Grund«, so Moriz Oberberger, helfen sie doch, »ein möglichst breites Spektrum an Menschen abzubilden und diese auch weniger geschlechtsspezifisch darzustellen«. Dabei sei aber ein wenig der »Charakter« verlorengegangen, der fürs Innehalten sorgt. Wie Oberberger selbst das in seinen Zeichnungen löst, ist auf hier zu sehen. Unser Fazit vorweg: Insgesamt heißt es künftig, wieder genauer hinzuschauen!

Bildtrend: Blurred Lines
Woran liegt es, dass aktuell so häufig diffuse Looks zu sehen sind? Eine naheliegende (vielleicht zu offenkundige?) Erklärung wäre das unbestimmte Bild, das unsere Zukunft in Corona-Zeiten abgibt. Die altgewohnte Planbarkeit hat sich plötzlich in Luft aufgelöst. »Das Verschwommene passt in unsere Zeit. Nichts ist eindeutig, alles im ungefähren Bereich der Komplexitäten, die Zukunft offen«, meint jedenfalls auch Anna Niedhart. Gleichzeitig mag sie die Leichtigkeit des Verschwimmens, »das Sich-im-Zufall-Verlieren, das kontrollierte Loslassen beim Zeichnen mit Wasserfarbe, iPad oder iPhone«. Dieser Flow sei bei Letzteren etwas weniger spontan, weil der Kopf beim Einstellen von Stiftdruck und Zeichenspitze immer mitarbeiten müsse. Aber auch im Digitalen »zeigen geblurrte, transluzente Zeichnungen alle Striche und Arbeitsschritte, sie verbergen nichts, lassen Interpretationsspielraum und machen neugierig, das Bild länger zu betrachten«.
»Das Verschwommene passt in unsere Zeit. Nichts ist eindeutig, alles im ungefähren Bereich der Komplexitäten, die Zukunft offen«
Anna Niedhart



Bildtrend: Ambivalent differenziert
Plakativ-reduziert sollten Illustrationen in den letzten Jahren sein, bloß nicht zu kompliziert. In gewissem Maße galt das sogar für opulentere Stile wie die Wimmelbildästhetik, die mit flächigen bunten Formen arbeitete, oder Bilder, die in comicartigen Arrangements ganze Geschichten erzählen. Um so erfrischender, mal wieder »richtige« detailreiche Zeichnungen zu sehen, wie bei Lukas Weidinger.
Vielleicht kein Zufall, dass jemandem mit einem derart ins Detail gehenden Zeichenstil Menschen mit allzu dezidierter Meinung suspekt sind, derweil er »Ambivalenz und differenzierendes Abwägen näher an der Wahrheit« sieht?
Auf große konzeptuelle Hintergedanken möchte der in Leipzig lebende Österreicher sich nicht festlegen lassen. Den nach wie vor dominierenden Hang zur illustrativen Reduktion sieht er jedoch durchaus auch kritisch im Kontext »kurzer Aufmerksamkeitsspannen, der Sehnsucht nach einfachen Botschaften und der daraus zum Teil resultierenden Polarisierung im Diskurs«. Vielleicht kein Zufall, dass jemandem mit einem derart ins Detail gehenden Zeichenstil Menschen mit allzu dezidierter Meinung suspekt sind, derweil er »Ambivalenz und differenzierendes Abwägen näher an der Wahrheit« sieht? Eine Überlegung, über die es sich auch gestalterisch nachzudenken lohnt.

Bildtrend: Strukturbilder
Warum sieht man derzeit so häufig strukturale Bildwelten, mal mehr, mal weniger abstrakt? Die Gründe sind vielfältig. Der Blick aufs große Ganze ist es bei den Plattencovern von Henning Ramke fürs dänische Trio WhoMadeWho. »Der Bandname brachte mich zu den Schöpfungsfragen: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Ist unsere Zeit auf der Erde gezählt? Und welcher Planet ist als Nächstes dran?«, so der Designer. Er setzte NASA-Satellitenfotos ein, beim Cover rechts eine Multispektralaufnahme in Falschfarben. »Der Füllmodus der Typo nimmt die Struktur auf, invertiert oder kontrastiert sie. Bild verbindet sich mit Schrift, Struktur mit Zeichen.«
Elektronische Musik hat ohnehin eine quasi natürliche Verwandtschaft mit Strukturbildern – tatsächlich entstehen diese ja selbst oft auf elektronischem Wege. Ausgiebig experimentiert die junge Münchner Designerin Julia Ballmann alias PPPANIK mit generativen Strukturen, erstellt mit TouchDesigner. Ihre Kreationen lassen sich am besten auf Instagram unter @pppanik bewundern. Über Patreon – und teils auch YouTube – teilt sie ihr Wissen in TouchDesigner-Tutorials, stellt aber auch Cinema-4D-Animations-Set-ups, 3D-Modelle, Schriften, Bild- und Videomaterial bereit. Eine Einladung, selbst strukturell aktiv zu werden.




Bildtrend: Kleine Fluchten
Der Liebe war die letzte Ausgabe von »ZEIT Campus« gewidmet. Für die Illustrationen zur Coverstory wählte das Frankfurter Studio Obby & Jappari eine »romantisierte, verträumte, märchenhafte und kitschige Ästhetik« – inspiriert von Airbrush-Künstler:innen der Eighties wie Mal Watson, Syd Brak oder Masao Saito, der die Idee fürs Spiegeleierherz anregte. Der Eskapismus, der anklingt, kommt nicht von ungefähr. Jan Lichte, Artdirektor von »ZEIT Campus«, sieht die Illus stilistisch beim Vaporwave der 2010er Jahre, der sich »einer romantischen Verklärung von 80er- und 90er-Jahre-Konsum verschrieben hat. In unserer von Corona- und Klimakrise verunsicherten Zeit berühren uns nostalgische Ästhetiken, weil sie ein Gefühl von Kontrolle und wohliger Erinnerung an gute Zeiten geben.« Wir stimmen zu! Wem geht beim Betrachten solcher (mit feiner Ironie gemischter) Bilder nicht das Herz auf?
»In unserer von Corona- und Klimakrise verunsicherten Zeit berühren uns nostalgische Ästhetiken, weil sie ein Gefühl von Kontrolle und wohliger Erinnerung an gute Zeiten geben«
Jan Lichte
Bildtrend: Neue Unbefangenheit
Ganz out sind einfach gekritzelte Illustrationen nie, aber von dem Boom, den sie ums Jahr 2010 mit dem genialen David Shrigley als Galionsfigur erlebten, war wenig übrig geblieben. Zum Glück, denn damals hatte sich ein gewisser Kritzelüberdruss eingestellt … Jetzt kommen sie zurück, die Zeichnungen im »Automatikmodus«, wie Moriz Oberberger es nennt – allerdings in weniger spitz-gewitzter Form. »Mich fasziniert, wie unvoreingenommen Kinder zeichnen, die noch ohne gelernte Techniken wild drauflosmalen, ohne viel nachzudenken, und so direktere, ehrlichere und unerwartete Ergebnisse hervorbringen.« Der in Amsterdam lebende Designer, der sich nach dem Abschluss am Werkplaats Typografie stärker in Richtung Illustration, Zeichnung, Animation und freie Kunst bewegt, sucht selbst nach Methoden, um wieder einen freieren Zugang zum Zeichnen zu finden. Übrigens ein Anliegen, das er mit aktuell viel beachteten jungen Malern wie Andi Fischer oder Conny Maier teilt, die wohl ebenfalls den Ballast allzu vieler schon gesehener Bildwelten abzuschütteln versuchen.
So reizvoll auch futuristische Kunstfiguren gerade wirken mögen – die Zukunft stellt sich ambivalenter dar: Zwischen echt und künstlich werden wir kaum noch unterscheiden können.
Wie bei Kindern können Oberbergers Figuren auch mal absurd, grotesk oder sogar hässlich werden. Uns gefällt das gut, etwa bei den ausdrucksvollen Illustrationen und Animationen, die der von Oliver Schwamkrug gestalteten Website des vietnamesischen Restaurants Chi-Thu in München ihren besonderen Charakter geben.


Bildtrend: Digital Humans
Schon geraume Zeit dauert der Hype um den Glossy- oder Plastic-Look an. Mit Face-Filtern verwandelt er Menschen von heute in solche von morgen oder präsentiert uns unter dem Hashtag #newfuturism hochglanzpolierte Visionen des Transhumanismus, der die ja doch noch recht unzulängliche Menschheit technisch endlich zu perfektionieren verspricht … Die Repräsentanz H+ Creative aus Los Angeles setzte früh auf diesen visuellen Trend und vertritt 3D-Artists wie Fvckrender (337k Follower auf Instagram) oder Jason Ebeyer (93k). Beide finden ihre Kundschaft vor allem bei Fashionlabels, haben aber auch NFTs als Erlösquelle entdeckt. In der Kryptokunst ist bekanntlich alles angesagt, was glänzt und sich bewegt.
So reizvoll die futuristischen Kunstfiguren gerade wirken mögen – die Zukunft stellt sich ambivalenter dar: Zwischen echt und künstlich werden wir kaum noch unterscheiden können. Kürzlich hat Unreal eine Early-Access-Version von MetaHuman Creator vorgestellt. Die Cloud-basierte App will die bislang höchst aufwendige und kostspielige Produktion authentisch wirkender 3D-Menschen auf weniger als eine Stunde verkürzen. Das funktioniert ähnlich wie beim Avatare-Erstellen in Spielen: Aus einer Library wählt man einen Basis-Character, den man innerhalb vorgegebener Authentizitätsparameter sukzessive verfeinert. Die 3D-Daten lassen sich downloaden, weiterbearbeiten und nach Belieben mit Motion-Capture-Animationen verbinden.

