Viele Senioren fühlen sich von Technik überfordert. Das Berliner Start-up Nepos möchte das ändern – und hat ein Tablet mit universeller Benutzeroberfläche entwickelt. Im Interview berichten Gründer Paul Lunow und Lead Designer Giuseppe Vitucci vom Entstehungsprozess.
Das Berliner Start-up Nepos hat das erste Tablet mit universeller Bedienoberfläche entwickelt, dass der Generation 65+ den Aufbruch in die digitale Welt ermöglichen soll. Das eigens konzipierte User Interface, genannt UI+, ist besonders leicht verständlich: Es stellt E-Mail-Programme, Videotelefonie, News-Seiten et cetera einheitlich dar – sodass Senioren sich nicht für jede Anwendung an eine andere Oberfläche gewöhnen müssen. Das Produktdesign des Tablets stammt von Werner Aisslinger.
Nach einem dreijährigen Entwicklungsprozess läuft derzeit eine Crowdinvesting-Kampagne für den Start der Produktion – aktuell wurden bereits über 740.000 Euro eingesammelt. Das Tablet soll Ende des Jahres gelauncht werden. Giuseppe Vitucci, der das UI Design von Nepos verantwortet, und Nepos-Mitgründer Paul Lunow berichten im Interview davon, wie sie bei der Entwicklung des Tablets und der UI+ vorgegangen sind.
Sie sind selbst viel jünger als die Zielgruppe von Nepos. Was hat Sie dazu motiviert, ein Tablet mit universeller Bedienoberfläche für die Generation 65+ zu entwickeln? Paul Lunow: Ich bin leidenschaftlicher Programmierer und für meine Familie der Systemadministrator. Meine Großtante tat sich mit dem Computer besonders schwer. Ich habe ihr alles genau erklärt, Memos und Gebrauchsanweisungen geschrieben – und am Ende hat nichts geholfen. Sie fühlte sich überfordert. Wie ihr geht es vielen älteren Menschen. Die Technik ist einfach nicht auf sie zugeschnitten. Da die Digitalisierung aber immer weiter voranschreitet, werden viele Senioren nach und nach aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Um Menschen wie meiner Großtante die soziale und gesellschaftliche Teilhabe weiter zu ermöglichen, haben Florian Schindler und ich Nepos gegründet. Unsere Motivation ist es, ein System zu schaffen, mit dem jeder die Vorzüge der Digitalisierung nutzen kann.
Welchen beruflichen Hintergrund haben Sie? Hatten Sie vor Nepos auch schon mit älteren Zielgruppen zu tun? Giuseppe Vitucci: Ich habe Kommunikationsdesign studiert, mit Fokus auf Typografie und Branding. Nach dem Studium habe ich mich intensiv mit digitalen Medien auseinandergesetzt, vorrangig im Ausstellungskontext. Unter anderem habe ich an virtuellen Inszenierungen und interaktiven Medienstationen für die Albrechtsburg in Meißen mitgearbeitet. Diese Dauerausstellung richtet sich unter anderem an eine ältere Zielgruppe. Hier konnte ich erste Erfahrungen sammeln.
Paul Lunow: Ich habe Informatik studiert und mich schon früh mit den sozialen Aspekten der Digitalisierung auseinandergesetzt, aus privatem Interesse und aufgrund der familiären Erfahrung. Die Vision, die weltweit einfachste Bedienoberfläche zur Anbindung der älteren Generation zu entwickeln, ist über Jahre gereift. Aktuell gibt es in Deutschland über 16 Millionen sogenannte »digital Abseitsstehende«, vorwiegend in der Generation 65+. Hier sehe ich einen großen Handlungsbedarf.
»Wir haben ein Bedienkonzept entwickelt, das es auch unerfahrenen Nutzern ermöglicht, all die Dinge zu tun, die wir im Netz erledigen.« – Paul Lunow
Wie genau funktioniert das universelle Interface des Nepos Tablets? Paul Lunow: Wir haben ein Bedienkonzept entwickelt, das es auch unerfahrenen Nutzern ermöglicht, all die Dinge zu tun, die wir im Netz erledigen: E-Mails schreiben, Musik hören, Videos anschauen, Tickets buchen, Geld überweisen, et cetera. Dank standardisierter Schnittstellen und der zunehmenden Trennung von Front- und Backend ist es möglich, Inhalte Dritter über APIs abzugreifen und in ein neues, einheitliches Interface zu integrieren.
Giuseppe Vitucci: Damit alle Anwendungen in einer einheitlichen Art und Weise bedient werden können, ist eine einfache, leicht verständliche Menülogik wichtig. In unserer Menülogik fächern sich die Menüs nacheinander gegen den Uhrzeigersinn auf. Im Menü bewegt sich der Nutzer Schritt für Schritt von einer Aktion zur nächsten. Die Bedienung erfolgt am Rand des Bildschirms, im mittleren Bereich befindet sich der Inhaltsbereich. Um komplexere Vorgänge auszuführen, wie beispielsweise Online-Überweisungen oder Einkäufe, die mehr als nur eine Aktion benötigen (wie Konto auswählen, Geldbetrag eingeben, Betreff eingeben) haben wir eine Menülogik festgelegt, die auf Grundlage von Schritten (1 bis …) den Prozess aufgliedert. Die Nutzer werden schrittweise nacheinander bis zum Abschluss geführt. Der letzte Schritt besteht immer aus einer Übersicht. Die Bedienung beruht auf folgenden vier Grundprinzipien: Jedes Bedienelement hat genau eine Funktion – der Nutzer kann keine Aktionen versehentlich auslösen. Der Nutzer wird multimodal geführt – Sound, Sprachhilfe, Beschreibung, Formen und Farben leiten ihn zum Ziel. Ein Lösungsweg – für jede Anforderung gibt es einen Lösungsweg, damit erreichen wir eine Stringenz in allen erklärenden Begleitmaterialien und jeder Kommunikation. Ästhetischer Anspruch – Klarheit und Minimalismus führen zu einem optisch ansprechenden Design.
Sie haben mehr als 300 Senioren in die Entwicklung des Tablets einbezogen – inwiefern waren diese beteiligt? Paul Lunow: Ohne den engen Austausch mit der Zielgruppe wären wir nicht so weit, wie wir heute sind. Nur durch unsere intensiven Tests und Befragungen konnten wir die Lösungsstrategien der Nutzer analysieren und ein Interface entwickeln, das so exakt auf die spezifischen Bedürfnisse älterer Personen zugeschnitten ist. Gestartet sind wir mit regelmäßigen Einzeltests. Über zwei Jahre hinweg haben wir monatlich neue Ideen, Konzepte und Prototypen besprochen und überprüft. Insgesamt haben wir mit mehr als 300 Testpersonen zusammengearbeitet und drei Langzeitstudien durchgeführt, um jeden Aspekt des UI+ detailliert zu untersuchen.
»Die wenigsten Tester wollten das Gerät nach den Langzeittests zurückgeben.« – Giuseppe Vitucci
Giuseppe Vitucci: Durch die vielen Gespräche und Tests habe ich erlebt, wie wichtig Empathie und Demut sind, um ein gutes Design zu entwickeln. Denn gutes Design ist innovativ, verständlich, unaufdringlich – aber vor allem optimiert es die Nutzung eines Produkts für die jeweilige Zielgruppe. Darum war eines der schönsten Geschenke für mich die Begeisterung der Tester. Die wenigsten von ihnen wollten das Gerät nach den Langzeittests zurückgeben.
Was waren ihre wichtigsten Bedürfnisse in Bezug auf die digitale Welt? Paul Lunow: Digitale Medien sind auch bei der älteren Generation ein Thema. Manche haben bereits erste Erfahrungen gesammelt oder sie kommen durch ihr Umfeld damit in Berührung über Enkel, Kinder, Medien oder einfach im Alltag. Unsere Erfahrung ist, dass die älteren Menschen mitmachen wollen. Sie möchten nicht das Gefühl haben abgehängt zu sein. Am wichtigsten sind zunächst Kommunikation, Teilhabe und Unterhaltung. Je erfahrener die Nutzer sind, desto mehr Angebote werden ausprobiert, auch Shopping bis hin zum Online Banking.
… und was hielt sie bisher davon ab, mehr an der Digitalisierung teilzuhaben? Giuseppe Vitucci: Die fehlende Einheitlichkeit. Der Antrieb allein auf Entdeckungstour zu gehen und neue Angebote einfach auszuprobieren, ist gering. Ein weiße leere Seite wie die Google-Suche ist für die Zielgruppe nur dann relevant, wenn sie konkret nach etwas sucht. Als Hindernis erweist sich auch die unglaubliche Vielfalt an Interaktionsmöglichkeiten mit der Software und Hardware, außerdem die unterschiedlichen Bedienkonzepte für E-Mail schreiben, Videotelefonie, Einkaufen oder die Einstellungsseiten des Gerätes. Alles wird anders bedient. Die UX und die Usability leiden extrem unter den von den jeweiligen Apps festgelegten Interaktionskonzepten und Brandingvorgaben.
Welche Inhalte kann das Nepos Tablet darstellen, welche nicht? Welche Apps werden in der Einführungsphase zur Verfügung stehen, welche weiteren sind zukünftig denkbar? Paul Lunow: In der Einführungsphase starten wir mit einer reduzierten Auswahl an Apps, dazu gehören E-Mail, Videotelefonie, Nachbarschaftsnetzwerk, News, Hörbücher, YouTube, Browser, Fotokamera, Bilder, Dokumente, Texteditor, Kontakte. Über den Browser können die Nutzer natürlich auf alle Internetseiten zugreifen. Weitere Inhalte kommen im Laufe der Zeit dazu. Noch kuratieren wir die Inhalte. Aber unser Ziel ist es, dass wir die Plattform für Drittanbieter öffnen. Das heißt, wir möchten Anbietern die Möglichkeit geben, automatisch im UI+ zu erscheinen, wenn die Daten im korrekten Format angeliefert werden.
»Senioren wollen »an die Hand genommen«, aber nicht für doof verkauft werden.« – Giuseppe Vitucci
Wie sind Sie bei der Entwicklung des UI+ vorgegangen? Paul Lunow: Wir haben zunächst Schritt für Schritt Elemente unserer Menülogik und des Layouts getestet. Dann haben wir unterschiedliche Anwendungen auf den Testgeräten implementiert. Wir wollten sicher gehen, dass sich auch komplexere Vorgänge über das UI+ steuern lassen. Darum haben wir beispielsweise eine HRS-App integriert, denn die Wahl eines Hotelzimmers verläuft in der Regel nicht linear und umfasst viele Schritte: Suchen, Filtern, Auswählen, das Gewichten des Preises, das Vergleichen von Angeboten, et cetera. Für uns war wichtig, dass auch ein vielschichtiges Auswahlverfahren mit der einmal gelernten Bedienlogik des UI+ möglich ist, um auch alle künftigen, heute noch unbekannten Anwendungen in der gleichen Logik abdecken zu können.
Welche Prinzipien muss man im UX/UI Design für Senioren unbedingt beachten? Giuseppe Vitucci: Wenn Senioren Schwierigkeiten mit der Technik haben, geben sie sich immer selbst die Schuld. Sie sind schnell demotiviert. Sie wollen »an die Hand genommen«, aber nicht für doof verkauft werden. Wenn sie etwas erfolgreich ausführen, wünschen sie sich Feedback. Wer im höheren Alter etwas Neues lernt, vergisst es schnell wieder, wenn es nicht auf bekannten Mustern aufsetzt. Deshalb ist es so wichtig, dass die Interaktion nach dem immer gleichen Schema abläuft. Kontinuität ist der Garant für Sicherheit und Vertrauen. Unsere Tester sind sich bewusst, dass Sie älter sind, möchten aber nicht stigmatisiert werden. Das ist ein schmaler Grat.
Was waren die größten Herausforderungen im Entwicklungsprozess? Giuseppe Vitucci: Die größte Herausforderung bestand darin, eine einheitliche Struktur zu schaffen für all die unterschiedlichen Anwendungsszenarien von Drittanbietern, wie E-Mails schreiben, Waren auswählen, Kontakte einrichten, Geld überweisen, inklusive Scrollen, Suchen, Senden. Außerdem sollte das UI+ berücksichtigen, dass sich die Inhalte ändern können und jederzeit erweitert werden müssen, ohne dass sich die Grundprinzipien der Bedienung ändern. Künftig könnte über das Tablet beispielsweise auch die Abwicklung von Bürgeramtsangelegenheiten erfolgen oder Online-Sprechstunden abgehalten werden.
Wie sind Sie bei der Entwicklung der Hardware vorgegangen? Was gab es dabei für Besonderheiten? Paul Lunow: Unsere Tests während des Entwicklungsprozesses ergaben, dass die auf dem Markt erhältlichen Tablets nicht auf die spezifischen Bedürfnisse älterer Menschen zugeschnitten sind. Die Ein- und Ausschalttaste oder die Lautstärkeregelung sind oft nicht unmittelbar erkenntlich, auch ein flaches Gehäuse ist nicht nutzerfreundlich. Darum haben wir Werner Aisslinger um Unterstützung gebeten. Eigentlich wollten wir von ihm nur eine Empfehlung für einen jungen Designer. Er fand das Thema aber so spannend, dass er selbst das ergonomische Gehäuse gestaltet hat. Die Besonderheiten sind die Anzeigen für den Eingang von E-Mails und den Ladezustand des Akkus, ein Drehregler für die Lautstärke sowie die stabile Standvorrichtung. Der 10-Zoll-Bildschirm ist Standard und ermöglicht eine ausreichende Schriftgröße.
Ihr Geschäftsmodell sieht vor, dass Sie an allen Käufen, die über ein Nepos-Gerät getätigt werden, beteiligt werden. Wie überzeugen Sie Drittanbieter von dieser Idee? Paul Lunow: Wir haben in den letzten Jahren zahlreiche Gespräche geführt und bereits mehrere Pilot-Partnerschaften mit führenden deutschen Unternehmen aus den Bereichen Finanzdienstleistungen, Versandhandel, Seniorenpflege und -betreuung sowie Gesundheitsfürsorge. Allen ist bewusst, dass die ältere Generation in den nächsten fünf Jahren digital integriert werden muss. Nepos kann dabei der Schlüsselpartner für Wirtschaft und Politik werden, weil wir ein sinnvolles Geschäftsmodell vorweisen können. Es ist gar nicht so schwer Drittanbieter zu überzeugen, denn das Zielgruppenpotenzial – allein in Deutschland – umfasst 16 Millionen Menschen. Das Interesse an Partnerschaften mit uns ist sehr groß.
Sind bereits weitere Nepos-Produkte in Planung? Könnten Sie sich beispielsweise vorstellen, ein Senioren-Smartphone mit UI+ zu entwickeln? Paul Lunow: Klar, wir wollen stabile, ausgereifte Technik für alle zugänglich machen. Smartphones sind interessant, aber auch das Internet Of Things und Smart Home können für ältere Menschen echte Lebensqualität bringen. Jetzt ist es erst einmal wichtig, dass wir über die Crowdinvesting-Kampagne bei Companisto das Geld für den Start der Produktion des Tablets zusammen bekommen.
Wäre es zukünftig denkbar, dass das UI+ auch auf externer Hardware funktioniert? Giuseppe Vitucci: Ja, selbstverständlich. Mit unserem Interface könnten wir auch die Bedienung von Ticketautomaten an Bahnhöfen und Flugterminals vereinfachen oder den Ausleihprozess von Büchern in Bibliotheken verbessern. Es sind unzählige Einsatzszenarien denkbar. Aktuell fokussieren wir uns auf den Launch des Nepos Tablets Ende des Jahres, aber wir haben viele Ideen für die Zukunft.