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Gemeine dürfen niemals gesperrt werden – gibt es keine Ausnahme?

Wir stellen die goldenen Regeln der Gestaltung auf den Prüfstand! Erik Spiekermann im Interview …

Erik-Spiekermann-Designregeln-10-2016

Was ist gutes Design heute? Besitzt die Regel »Gemeine dürfen niemals gesperrt werden« immer noch ihre Gültigkeit und gibt es Ausnahmen? Welche Gestaltungsprinzipien gibt es heute überhaupt noch? Erik Spiekermann, Schriftgestalter und Autor aus Berlin, im Interview:

Gibt es wirklich keine Ausnahme von dieser Regel?
Erik Spiekermann: Das ist eine gute Regel, weil der Text sonst nicht mehr lesbar ist. Wenn sich der Innenraum der Buchstaben und ihr Abstand zueinander nicht mehr ent­sprechen – zum Beispiel bei zwei o –, kann der Leser das Wort nicht mehr erkennen. Das gilt für Lesetexte. In der Werbung dagegen ist es interessant, wenn mal ein Wort unlesbar ist, weil es irritiert – es ist ein Hingucker. Typografische Regeln fangen erst bei einem Lesetext von mehr als sieben Zeilen an zu greifen – alles darunter sind Ausnahmen.

Welche Designprinzipien haben heute überhaupt noch Gültigkeit?
Gestaltungsregeln sind immer abhängig vom Kontext. Ich kenne keine handwerkliche Regel, die immer durchzuhalten wäre. Vieles ist einfacher, wenn man sich an die Grundregeln hält. »Nutze nie mehr als zwei Schriftarten« ist so eine. Für eine Buchseite würde ich tatsächlich nie mehr als zwei Typen verwenden. Bei einem Werbeplakat schon. Hier muss man Regeln brechen, sonst nimmt es ja keiner wahr. Jedes Me­dium hat seine eigenen Gesetze.

»Typografische Regeln fangen erst bei einem Lesetext von mehr als sieben Zeilen an zu greifen – alles darunter sind Ausnahmen«

Gibt es übergeordnete Regeln, die einzuhalten sind, egal welches Medium?
Es gibt Schriften, von denen man weiß, dass sie für bestimmte Bereiche nicht geeignet sind. So nutzte Apple bis vor einem Jahr die berüchtigte Neue Helvetica für iOS. Jedem war klar, dass sie – so dünn und eng, wie sie ist – in kleinen Graden auf klei­ne Displays überhaupt nicht funktionieren kann. Die Buchstaben klebten zusammen, sie waren sich zu ähnlich, man konnte ein L nicht von einem I oder einer 1 un­ter­schei­den. Das war fast physisch: Wenn man 120 Kilo wiegt, holt man sich kein T-Shirt in Small – das sieht scheiße aus und ist unbequem.

Auch die Regel, keinen Blocksatz zu verwenden, wenn nicht mindestens fünf Wörter in der Zeile sind, hat weiterhin Gül­tigkeit. Blocksatz erleichtert das Querlesen. Unter 35 Buchstaben pro Zeile ist er jedoch un­geeignet, weil man sonst nur Trennun­gen hat. Die optimale Anzahl sind 55 bis 60 Buch­staben. Das sind Gesetze, die aus der Lesbarkeitsforschung kommen und nicht aus der Typografie. An solche Regeln sollte man sich einfach halten.

Gilt das auch fürs Lesen am Bildschirm?
Dort ist das Lesen wesentlich schwieriger, weil man in die Lichtquelle schaut. Da gibt es fast noch mehr Regeln zu beachten. Bei Büchern kann man auf langjährige Erfahrungswerte in puncto Lesegewohnheiten zu­rückgreifen: Das Papier war nicht ganz weiß, damit der Kontrast nicht zu hart ist und so weiter. Auf dem Bildschirm lässt sich das nicht so kontrollieren. Man weiß nicht, wie groß dieser ist und wie groß sich der User die Schrift einstellt.

Deswegen ist es hier viel wichtiger, wenigstens die Grundregeln einzuhalten.

Welche Regel gilt für die Lesbarkeit?
Alle Schriften, die auf billigem Papier gut lesbar sind, funktionieren auch digital – also die guten alten Zeitungsschriften Cen­tury, Candida, Garamond oder die »Spie­gel«-Hausschrift Rotation. Sie sind dafür gemacht, auf schlechtem Untergrund in 6 Punkt Größe gedruckt zu werden, die hal­ten etwas aus und sind deshalb für Bildschirme bestens geeignet.

Unterliegen Gestaltungsprinzipien nicht auch der Mode?
Die gerade so angesagten geometrischen Schriften eignen sich wegen ihrer zu harten Kontraste nicht fürs Lesen. Ich unterstelle mal, dass zahlreiche junge Grafiker die Texte, die sie bearbeiten sollen, nicht lesen, sondern Buchstaben wie Muster sehen – sie müssen schön gleichmäßig sein, es muss perlen, das Muster einen schönen Grauwert haben. Ob Bildschirm oder Buch, unsere Augen stehen immer noch nebeneinander und unsere Arme sind 70 Zentimeter lang, daran hat sich nichts geändert. Auch wenn eine Generation, die mit dem iPhone groß geworden ist, Helvetica vielleicht besser lesen kann als ich, geht es letzten Endes doch um Qualität. Das Lesen ist leichter und angenehmer mit Georgia oder Corona.

 

In PAGE 10.2016 haben wir neun weitere Designprinzipien beleuchtet und befragten dazu Branchen-Experten. Lesen Sie mehr:

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Was können Variable Fonts und wem nützen die OpenType-Schriften?

Kommentare zu diesem Artikel

  1. Typografen neigen dazu, Design in Regeln einsperren zu wollen. Was dabei herauskommt sind leider allenfalls Faustregeln.

  2. Minuskeln spationieren sollte man tatsächlich nur aus gutem Grund. Typografische Regeln sind – aus meiner Sicht – hilfreiche Leitplanken, die leider zu oft ignoriert werden. Der letzte Richter ist aber nicht die Regel, sondern immer in der visuellen Gestaltung, das Auge. Und selbst bei Lesetexten können “Stolpersteine” hilfreich sein. Je nach Funktion des Textes, möglicherweise für erwünschte Lesearten, wie konsultierendes, selektierendes Lesen oder in der inszenierenden Typografie.

  3. Erik Spiekerman ist halt immer noch der Chef!

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