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mmer zum Erscheinen der aktuellen Printausgabe der PAGE: »Die Fundstücke« von Jürgen Siebert. Freuen Sie sich über kühne Kommentare zu Trends, Entwicklungen, Ereignissen und dem ganz normalen Alltagswahnsinn eines Kreativen … Heute: »Public Viewing im Wohnzimmer«


Ich glaube nicht an den seit Jahren angekündigten Einzug des Internets ins Fernsehgerät. Bis ich an meinem Smart TV eine Website aufgerufen habe, vergehen Minuten. Das liegt sowohl an der umständlichen (Fern-)Bedienung wie auch an der bescheide­nen Rechen-Power. Am Fernseher sur­­­fen ist wie Netscape Navigator Ende der 1990er Jahre. Twitter geht gar nicht, auch Facebook macht keine Freude, wenn man es mit dem leichten Zugang auf einem Tablet vergleicht. Das größte Manko: Während der Online-Session verpasse ich das Geschehen auf dem gewählten TV-Kanal.

Im Moment geht der Trend zum Zweitbildschirm, Fachleute sprechen von der Second-Screen-Nutzung. Repräsentative Untersuchungen bestätigen das Phänomen. Die Darmstädter Unternehmensberatung Anywab hat im Mai ungefähr 2000 Internetnutzer zu ihrem Second-Screen-Verhalten be­fragt. Die Hälfte von ihnen nutzt bereits den Zweitbildschirm beim Fernsehen, insbesondere die 14- bis 24-Jäh­ri­gen. Zwei Drittel der Befragten suchen dabei zusätzliche Informationen zur Sendung. 45 Prozent machen das mehrmals im Monat, 27 Prozent mehrmals in der Woche, 6 Prozent sogar täglich. Ganze 57 Prozent bestätigten, dass sie beim Fernsehen soziale Netzwerke besuchen: 36 Prozent posten, was sie gerade sehen, und ein weite­res Drittel sieht nach, was sich die Freunde ansehen.

Für Anywab-Geschäftsführer Boris von Heesen kommt das Second-Screen-Phänomen einer schleichenden Revolution gleich, die mittelfristig das Fernsehverhalten und auch das Angebot der Sender in erheblicher Weise verändern wird. Das glaube ich auch, allerdings wehre ich mich dagegen, Ursache und Wirkung zu vertauschen. Meine Dauerthese: Neue Techniken bedienen uralte menschliche Gewohnheiten und Bedürfnisse schlicht besser als die jahrelang eingesetzten Werkzeuge. Mein Schlüsselerlebnis war die Einführung des digitalen Schreibens Anfang der 1980er Jahre. Stift oder Schreibmaschi­ne haben das Verfassen von Gedanken nie so adäquat unterstützt wie das Texten am Bildschirm.

Fernsehen pur hat mich auch nie ausgelastet. Neben Essen und Trinken habe ich vor dem Fernseher schon immer sehr gerne Zeitung gelesen, ir­gend­­­etwas repariert oder Telefon­ge­sprä­­che mit Freunden geführt. Ich ken­ne Menschen, ja ganze Nationen, da läuft der Fernseher ununterbrochen, so wie ein Radio: Keiner guckt hin. In­tendan­ten, Werbetreibende oder Quo­tenwächter wollen von dieser Gleichgültigkeit nichts wissen, und so wird gar nicht erst versucht, diese statis­tisch zu erheben. Zu groß wäre die Ernüchterung der Bündnispartner einer Wertschöpfungsspirale, aus der Millio­nen­um­sätze generiert werden.

Die Gerätehersteller haben ehrli­che­re Zahlen. Laut einer Untersuchung des Zentralverbands Elektrotechnik- und Elektronikindustrie und der Gesellschaft für Unterhaltungs- und Kom­munikationselektronik anlässlich der bevorstehenden IFA hat das TV-Gerät seine Exklusivität bei der Wiedergabe von Bewegtbildern endgültig verloren. Immer mehr Menschen setzen mobile Geräte oder ihren Computer ein, um Nach­richten, verpasste Se­rienfolgen oder YouTube-Filmchen zu kon­sumie­ren. Das Problem der TV-Hard­ware-Hersteller: Der Absatz läuft zwar gut, aber die Gewinnmargen sind so gering, dass es schwer wird, davon neue Innovationen zu finanzieren, zum Beispiel eine standardisierte Sprach­steu­erung. Es zeichnet sich ab, dass die Computerindustrie das verlorene Terrain in den kommenden Jahren komplett besetzen wird.

Die Fußball-EM 2012 bescherte dem Doppelschirm-Fernsehen einen enor­men Schub. Der Kurznachrichtendienst Twitter zählte während des EM-Finales 16,5 Millionen Tweets. Im Durchschnitt wurden pro Sekunde mehr als 15 000 Nachrichten versendet, steht im Firmenblog. In manchen Ländern versuchte man den Traffic mit Sport-Promis zu befeuern. In Deutschland setzten beispielsweise Franz Beckenbauer und Oliver Kahn ihre ersten Tweets an die Fans ab; das ZDF beleuchtete die Premiere dauerhaft mit Expertenkommentaren.

Soziologen nennen das Phänomen Social TV, eine Art Public Viewing im Wohnzimmer: Obwohl man alleine ist, schaut man virtuell mit anderen Fernsehen. Neben Fußball laden insbesondere Casting- und Talkshows zum direkten Kommentieren ein. Auf diese Weise wird jeder Zuschauer zum Fernsehkritiker, der schneller veröffentlicht als jede Tageszeitung … sogar Spiegel Online hinkt hinterher.

Kein Wunder, dass es für die neue Freizeitbeschäftigung bereits die ers­ten Apps gibt. Beispielsweise Couchfunk für das iPad, entwickelt von ei­nem Start-up aus Radebeul. Die beiden Gründer Uz Kretzschmar und Frank Barth bezeichnen ihre kostenlose Anwendung als persönlichen Social-TV-Service, mit dem sich Zuschauer vom Fernsehen auf völlig neue Art begeis­tern lassen sollen. Wer die App startet, bekommt eine Übersicht häufig diskutierter Programme präsentiert. Zu jedem gibt es eine Profilseite mit einer knappen Beschreibung sowie einen chronologischen Stream von Zuschauerkommentaren – sowohl solche, die auf Grundlage redaktionell gepflegter Hashtags aus Tweets importiert werden, als auch direkt über die Couchfunk-App veröffentlichte.

Was derzeit noch in solchen Apps fehlt, ist das Live-TV-Bild. Dann käme endlich zusammen, was zusammengehört: nicht das Netz in den Fernseher, sondern das Fernsehen ins Netz. Der Tag wird kommen.

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