Das große Eszett ist da – und nicht jeder Typograf freut sich über die Neuigkeiten. Was spricht dafür, was spricht dagegen?
Bereits vor fast zehn Jahren waren die Meinung über die Einführung des großen Eszetts schon geteilt – wie dieser Artikel aus unserem Archiv beweist, der sich anlässlich der Unicode-Aufnahme des Buchstabens sehr detailliert mit dem Thema befasst. Erschienen in PAGE 01.08 im Dezember 2007:
In einer Art Dornröschenschlaf befindet sich das Versal-ß seit nunmehr 128 Jahren. Und immer gab es Bestrebungen, den 27. Buchstaben des Alphabets offiziell einzuführen. Die Rolle des Prinzen übernahm nun Andreas Stötzner aus Pegau: Schon 2004 hatte der Typograf und Herausgeber der Zeitschrift »Signa« beim Unicode Consortium die Aufnahme des Versal-ß beantragt und war gescheitert. Nach Jahren akribischer Arbeit, die Existenz und Berechtigung des versalen Scharf-S belegt, versuchte Stötzner es jetzt erneut und ließ das zuständige DIN-Komitee, in dem er selbst mitarbeitet, einen zweiten Antrag stellen. Und das mit Erfolg: Eine Fachgruppe der internationalen Standardisierungsorganisation ISO beschloss, das Versal-ß als neuen Buchstaben in den internationalen Zeichensatz ISO 10646 beziehungsweise Unicode aufzunehmen. Bis zur Bestätigung des Codierungsbeschlusses und der endgültigen Aufnahme werden allerdings noch einige Monate vergehen.
»Die Initialzündung lieferte vor einigen Jahren die Ausgabe eines alten Leipziger Dudens mit einem Versal-ß auf dem Titel«, erinnert sich Andreas Stötzner. »So kam das Thema wieder in die Diskussion, die letztlich zu dem ISO-Beschluss führte, über den ich natürlich sehr froh bin.«
Die gemischte Schreibweise – WEIß – ist typografisch gruselig
Da kein deutsches Wort mit einem ß beginnt, ist die Majuskel nur im Versalsatz gefragt – da allerdings ziemlich häufig. Gerade bei Namen führt die gängige Regelung, das ß im Versalsatz durch SS zu ersetzen, zu Verwirrungen. Schließlich kann ja niemand wissen, ob Frau Weiss nun Weiss oder Weiß heißt. Offizielle Dokumente verwenden daher die gemischte Schreibweise: WEIß. Diese allerdings ist typografisch so gruselig, dass jeder, der schon einmal vor einem KREIßSAAL stand, das versale ß nur als Segen und Bereicherung empfinden kann.
Trotzdem gibt es Kritiker des ISO-Beschlusses, die vor allem zwei Argumente ins Feld führen: Zum einen sei das ß ursprünglich eine Ligatur aus zwei Kleinbuchstaben und passe vom Formenkanon her nicht zu den Großbuchstaben. Zum anderen sei seine Form leicht mit einem B zu verwechseln. Beide Argumente zählen für Andreas Stötzner nicht: „Es ist keinesfalls sicher, dass das ß aus einer Ligatur entstanden ist, die wirkliche Herkunft unseres heutigen ß ist nicht so eindeutig.“
Eine Reihe gelungener Umsetzungen existiert
Wer in diese Debatte tiefer einsteigen möchte, dem sei Ausgabe 9 der Zeitschrift »Signa« empfohlen, die sich ausschließlich dem Thema Versal-ß widmet. Stötzners Frau Uta geht hier sehr detailreich der Frage nach, wie unser modernes aufrechtes Antiqua-ß entstanden ist. »Auch das Argument, für ein Versal-ß gebe es keine adäquate Gestalt, zieht nicht mehr. Inzwischen existieren eine Reihe gelungener Umsetzungen«, so der Typograf. Auf seiner Site www.signographie.de stellt Andreas Stötzner die so genannte Dresdner Form des Versal-ß vor – die nach Ansicht vieler Schriftgestalter überzeugendste Umsetzung – und liefert auch eine Gestaltungsvorlage gleich mit. Diese und die zahlreichen anderen herunterladbaren Studienmaterialien lassen erahnen, wie tief Stötzner und seine Mitstreiter in das Thema Versal-ß eingetaucht sind.
Am Herzen liegt das Thema auch Ingo Preuß aus Ladenburg, und das nicht nur, weil er selbst zu den Betroffenen gehört: »In meinem Ausweis steht tatsächlich PREUß – da zieht sich mir als Schriftgestalter und Typograf alles zusammen.« Für sein gemeinsam mit Andreas Seidel ins Leben gerufenes Typolabel legte er fest, dass sämtliche dort feilgebotenen Schriften das versale ß enthalten. »Nicht umsonst nennt sie sich German Type Foundry, und das Versal-ß ist ein sehr deutscher Buchstabe«, so Preuß. »Was also lag näher, als dieses Zeichen zum Standard zu erheben?« Auf ihrer Website richteten sie unter dem Stichwort »Information«, »Nachrichten« ein FAQ zum Versal-ß ein.
Auch andere Schriftgestalter bieten Fonts an, die das versale ß enthalten, zum Teil sind es reine Versalalphabete, aber auch komplett ausgebaute Typen finden sich darunter: die kostenlose Anivers von Jos Buivenga beispielsweise, Linux Libertine von Libertine Open Fonts, Logotypia Pro von Ralf Herrman, Adane und Missale von Andreas Seidel oder die Andron sowie vier freie Fonts von Andreas Stötzner.
Das Versal-ß im typografischen Alltag
Ob uns das Versal-ß im typografischen Alltag überhaupt irgendwann begegnen wird, bleibt jedoch fraglich. Denn gerade viele Behörden verwenden statt Unicode immer noch den alten ISO-Zeichensatz, der nur 256 Zeichen enthält und damit für ein Versal-ß gar keinen Platz hat. Auch eine offizielle Tastaturbelegung ist bisher nicht geplant. »Keine Foundry wird es einsehen, den Buchstaben gratis nachzubessern, selbst wenn er Unicode-Standard sein sollte«, meint Ingo Preuß.
»Erinnern Sie sich, wie lange die Einführung des Euro-Zeichens dauerte und welchen Wirbel dies verursachte? Und im Gegensatz zum versalen ß wurde das Währungszeichen Euro tatsächlich dringend benötigt. Ich denke, wir werden nicht sehr häufig auf diesen neuen Buchstaben treffen«, erklärt Preuß. Grund zum Feiern gibt es aber trotzdem. Immerhin, so der Schriftgestalter, sei es der Zähigkeit Andreas Stötzners zu verdanken, dass dieser deutscheste aller Buchstaben nun Aufnahme im Unicode findet. Der erste Schritt ist damit getan.
Und noch ein paar (damalige) Meinungen von Typo-Experten:
Ralf Herrmann: »Das Eszett im Versalsatz in ein Doppel-S aufzulösen war seit jeher eine fragwürdige Notlösung, die gerade bei Eigennamen völlig versagt und das Ausfüllen von Formularen zum Glücksspiel macht. Verschärfend kommt hinzu, dass die Rechtschreibreform die sprachliche Unterscheidung zwischen Eszett und Doppel-S noch stärker betont, indem mit ihnen die Länge des Vokals vor dem S-Laut verdeutlicht wird. Was bei »Gruß« und »Kuss« hervorragend funktioniert, wird im Versalsatz ad absurdum geführt. Muss der Fußball nun anders ausgesprochen werden, wenn er FUSSBALL geschrieben wird?«
Dan Reynolds: »Ein Versal-ß? Ich bin dagegen. Wenn man sich mit Kalligrafie oder gebrochenen Schriften auseinandersetzt, wird einem bewusst, dass das Eszett die Ligatur eines langen s und eines Schluss-s ist. Da das lange s als Versalbuchstabe aber bislang noch kein typografischer Standard ist, ist ein Majuskel-Eszett nicht formbar. Die dahingehenden Experimente überzeugen mich nicht. Die frühere DDR verwendete das Versal-ß einige Jahre, was kein triftiger Grund für eine Neuinszenierung ist. Der Einsatz dieses Buchstabens sollte sich auf die Geschichtsbücher beschränken. Meiner Ansicht nach funktioniert das Ersetzen durch SS ganz gut.«
Jürgen Weltin: »Es macht keinen Sinn, dass alle Kleinbuchstaben und sogar Ziffern und Interpunktionen eine versale Entsprechung haben – nur das ß nicht. Es gibt Schlimmeres auf der Welt als einen zusätzlichen Buchstaben. Wer ihn nicht verwenden will, lässt es eben bleiben. Der neue Buchstabe muss sich wesentlich von einem B unterscheiden, mit dem er leicht verwechselt werden könnte.«
Ist es letztendlich nicht eine rein ästhetische Frage? Wenn ja: Ich finde es hässlich, es fügt sich nicht ins Schriftbild ein; nirgends. es sieht stets aus, wie ein Geschwür im Versaltext.
Das Versal-ß sehe ich eher als eine Änderung die Probleme verursacht als eine Verbesserung die welche löst. Wir müssen jetzt nicht nur alle Schriften mit ein Versal-ß versehen, wir müssen den Leuten jetzt auch noch beibringen zu unterscheiden zwischen der Form des kleinen und des großen ß. Wie viele schreiben seit eh und je GROßBUCHSTABE? Das wird die Einführung des ß nicht unbedingt verbessern. Eher werden wir jetzt vermehrt solche Fehler sehen, weil man meint das sei nun auf einmal richtig. Und das stimmt mich traurig.
Schlimmer finde ich aber, dass Deutschland sich hiermit ins international gesehen ins Abseits manövriert. Und das sage ich sogar als Holländer. Als ob es nicht schon eigentümlich genug ist, dass wir ein ß haben, was für ss steht aber als sz bezeichnet wird, haben wir nun auch noch einen Versal-ß dazu bekommen. Und die favorisierte Form macht es auch nicht besser: http://www.badische-zeitung.de/kolumnen-sonstige/grosses-ss-wir-haben-einen-neuen-buchstaben–131121706.html Sie erinnert stark an die Experimente von rund 1900 wobei versucht wurde zu einer Synthese von Antiqua und gebrochene Schriften zu gelingen. An sich eine interessante Idee, aber viele Schriften aus der Zeit sind nicht ganz zu unrecht wieder verschwunden. Die favorisierte Grundform für das Versal-ß passt nicht wirklich zu den Großbuchstaben, da kann man daran biegen und brechen wie man will. Diese gebrochene Form wird in den meisten Schriften wie ein rückwärts gewandtes deutsch-tummelndes Element wirken. Und das ist etwas wovon ich denke, dass wir es gerade jetzt erst recht nicht gebrauchen können.
Anstatt das Versal-ß als Option einzuführen wäre es besser zu erlauben anstatt ß ss schreiben zu dürfen. Ich denke, das ß wäre dann schneller verschwunden als das wir alle Schriften mit einem Versal-ß versehen wurden und alle es richtig einsetzen wurden. In dem Sinne halte ich eine längerfristige Abschaffung des ß für eine zukunftsweisende Lösung. Und warum nicht? Die Schweizer geht es seit der Abschaffung des ß bekanntlich auch nicht schlechter.
Weniger ist mehr! Anstatt den Schriftgestaltern, Programmierern, Tatstaturhersteller, Lehrer, Schulbuchverlage usw. einen Haufen Arbeit auf den Tisch zu packen, wäre es besser und einfacher, dafür einzutreten für die Reisepässe und Kreditkarten die gemischte Schreibweise einzuführen. Die Frage was bei Großschreibung aus dem ß werden sollte, hätte sich dann erübrigt. Die gemischte Schreibweise ist erwiesenermaßen sowieso besser lesbar. Siehe die Verkehrswegweiser in fast allen europäischen Länder (außer zB Frankreich und Bulgarien). Wenn die gemischte Schreibweise auf der EC-Karte geht, warum nicht auch auf die Kreditkarte? Das wäre eine Lösung eines Problems wovon wir alle etwas haben wurden.
Mir wäre es daher lieb, wenn der Rechtschreibrat diese neue Regel überdenken wurde.
Alle mir bisher zu Augen gekommenen Versuche dieses Zeichen in ein überzeugendes und den anderen Majuskeln ebenbürtiges Zeichen zu überführen sind m. E. gescheitert. Ich finde ein frisiertes ß als Majuskel auszugeben – ist nur geringfügig weniger gruselig als gleich die Minuskel zu verwenden.
Von „X,Y,Z“ einmal abgesehen, unterscheiden sich alle Versalien recht deutlich und von ihren jeweiligen Gemeinen – was bei genauerer Betrachtung der Zeichenentstehung- und Entwickung nachvollziehbar ist. Das Versal-Alphabet ist in seiner bisherigen Ausprägung in sich harmonisch und ausgewogen. Warum sollte es nicht möglich sein auch für das „ß“ eine würdige, selbstbewusste, den anderen Upper Cases „wirklich “gleichrangige Form zu entwickeln. Eine Form, die dieses Zeichen nicht jedes Mal wieder als „Fremdkörper und Störfaktor“ aus der Reihe tanzen lässt.
Die bisher angstellten Versuche in allen Ehren – ich meine jedoch, da geht noch was.
Tag ein Tag aus wird über Typografie, Schrift- und Zeichenkultur, Designqualität etc. schwadroniert – dann sollte uns auch dieses „neue Zeichen“ mehr als nur etwas „Facelifting“ wert sein.
Ich wundere mich jedes Mal, wenn ich auf das Argument der Ligatur stoße. Das “W” ist (bzw. war mal) auch eine Ligatur, trotzdem würde wohl keiner heute abstreiten, dass es ein eigenständiger Buchstabe ist, der auch eine Versalie braucht. Und auch wenn das Versal-Eszett seine Einschränkungen hat – keine Verwendung am Wortanfang, was beim “W” auch möglich ist –, innerhalb seines Anwendungsbereichs hat es durch die unterscheidende Funktion zum “SS” doch seine Berechtigung.
Endlich, ich finde es richtig und es sollte auch in Der Rechtschreibung Einzug halten, da die Kinder das ss, ß, und SS sehr verwirrend ansehen. Zwischendurch gab es teilweise Jahrgänge gab die gelehrt bekamen, dass das ß irgendwann komplett wegfallen würde. Und diese vertreten bis heute noch ihre Meinung, obwohl es falsch ist. So hätte man endlich Klarheit im Rechtschreibechaos.