
Studio DIA und seine Kinetic Identities
Bewegung ist zentral für das Designverständnis von DIA Studio. Im Zusammenspiel mit Schweizer Typografie entstehen so ganz besondere Artworks.
Und das heißt: Vor der Klärung ästhetischer Fragen geht es zunächst um die zugrunde liegenden Bewegungsmuster. »Sie sind die Referenz für die Identity, nicht umgekehrt«, so Mitch. »Eine kinetische Identität ist ein animiertes visuelles System, das sich von der Bewegung ableitet.« Weil ich immer noch fragend schaue, erklärt er weiter: »Stell dir zwei Tänzer nebeneinander in exakt den gleichen Klamotten vor. Dann fangen sie an zu tanzen, der eine Ballett, der andere Hip-Hop. Du erkennst sofort die stilistischen Unterschiede, aber eben nur, wenn sie sich bewegen. Ersetze jetzt die Tänzer durch Typografie und die anderen Elemente eines Designsystems, und du hast eine kinetische Identität, die ihre ästhetischen Qualitäten aus der Bewegung bezieht.« Designsysteme, die Bewegung nicht als Kern, sondern als bloßes Add-on betrachten, würden in animierten und interaktiven Formaten oft nicht wirklich überzeugen.

Inspired by Nature – and Music
Bewegungsmuster findet das DIA-Team überall, zum Beispiel in der Natur, wenn sie den Rhythmus eines galoppierenden Pferdes oder eines Elefanten untersuchen. Oft bleiben sie aber dicht am Produkt. Zur Einführung des Nike-Basketballschuhs KD11 etwa entstanden experimentelle typografische Animationen, denen die Energie und die Bewegungen eines Basketballs zugrunde liegen. Dieses Projekt von 2018 war das erste größere, in dem DIA auf ein generatives System zur Erzeugung von Bildern setzte. Seither gestalten die Kreativen immer öfter nicht nur eine Identity, sondern auf die Kund:innen zugeschnittene Baukästen mit generativen Designelementen.
»Wir funktionieren wie eine Jazzband, alle haben unterschiedliche Schwerpunkte und Skills, die sich ganz wunderbar ergänzen«
Mitch Paone
Eine nie versiegende Inspirationsquelle ist zudem die Musik. Mit fünf Jahren begann Mitch, Klavier zu spielen, später entdeckte er den Jazzpianisten Herbie Hancock und den Saxophonisten Wayne Shorter für sich und verschrieb sich dem Jazz. Musik ist für ihn ebenso wichtig wie Design, und es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht Klavier spielt. Kein Wunder, dass sich dies auch auf den Gestaltungsprozess auswirkt – nicht nur bei ihm selbst: »Jeder von uns vieren geht an ein Designprojekt so heran, wie ein Musiker einen Track komponieren und entwickeln würde.«

Von New York nach Genf
Im Februar 2019 wurden Mitch und Meg für das La Becque’s Principal Residency Program ausgewählt. Die Kooperation der École cantonale d’art de Lausanne (ECAL) und der Künstlerresidenz La Becque bietet Kreativen die Möglichkeit, ein Semester lang an einem persönlichen Projekt zu arbeiten, in Mitchs Fall an seiner Foundry Monkey Type (https://monkeytype.xyz). Kaum war die Zeit um, bot ihm die Haute école d‘art et de design (HEAD) in Genf einen Lehrauftrag an. Das Paar zog nach Genf und wohnt dort bis heute. Das DIA Studio in Brooklyn schlossen sie vor dem Umzug in die Schweiz und arbeiten seitdem remote. »Deanna ist nach wie vor in New York, Daniel irgendwo in Europa unterwegs. Bei unserem letzten Meeting war er gerade in Bukarest.« So waren die vier bestens auf die Coronazeit vorbereitet und Teamwork über große Distanz längst Alltag, als andere sich noch immer mit den Remote-Basics auseinandersetzten.
Ein bis zwei Tage die Woche unterrichtet Mitch an der HEAD, einen weiteren an der KABK in Den Haag. »Zum Glück kommen die meisten unserer Kunden nach wie vor aus den USA. Durch die Zeitverschiebung gibt es deshalb keine Kollisionen mit meinem Stundenplan«, so der 39-Jährige. Das klingt allerdings nach sehr langen Tagen, und dann ist da ja auch noch das Klavier …

Kulturschock Schweiz
»New York und Genf könnten unterschiedlicher nicht sein«, meint Mitch. »Für uns gleicht aber der leichte Zugang zu einer fantastischen Natur die völlige Abwesenheit vielfältiger Kultur aus. Außerdem sind Paris und Mailand quasi um die Ecke und auch der ganze Rest von Europa nur eine kurze Flugreise entfernt.« Es gab aber noch diverse andere Schockmomente. Etwa die Tatsache, dass dort kaum jemand fließend Englisch spricht, was dazu führte, dass Mitch und Meg inzwischen locker auf Französisch plaudern. Schwerer wiegt da schon die Tatsache, dass man in der Schweiz Fremden gegenüber sehr zurückhaltend ist. »Wir leben jetzt seit drei Jahren hier und fühlen uns keineswegs zu Hause. Die Einwanderungsregularien für Amerikaner sind kompliziert und unfreundlich, und die Einheimischen geben einem das Gefühl, ein Außenseiter zu sein.«
Gut, dass es die Schweizer Typografie gibt, die Mitch seit Langem bewundert und die in den Arbeiten des Studios eine so wichtige Rolle spielt. Er ist nicht nur Motion Designer, der sich mit Programmen wie After Effects oder Cinema 4D bestens auskennt, sondern auch Typedesigner. Ein Autodidakt, der ein paar Bücher gelesen und dann einfach angefangen hat. »Zum Glück hatte ich tolle Mentoren, Matteo Bologna zum Beispiel, der mir gezeigt hat, wie man mit Glyphs arbeitet, oder die Typo-Lehrer an der ECAL.« Den größten Einfluss hat allerdings François Rappo auf ihn. Im Laufe der Jahre verwendete und studierte er so viele von dessen Schriften, dass seine Herangehensweise ans Typedesign von ihm geprägt ist. Alle sieben Fonts, die Monkey Type anbietet, stammen übrigens von Mitch. Der Name der Foundry bezieht sich darauf, dass ein Teil der Verkaufserlöse an Tierheime geht.

Die optische Sensibilität verbessern
Nicht ganz so eindeutig ist dagegen die Herkunft des Namens DIA. »Such dir was aus«, antwortet Mitch auf meine Frage. »Wie wäre es mit ›Do it again‹, ›Dudes in action‹, ›Don’t imitate anyone‹, ›Dreamer’s ink aesthetics‹, ›Dunk in alcohol‹, ›Dogs irritating alligators‹ …« Ernst wird er wieder, als es um die Bedeutung der Typografie für seine Arbeit geht. Für ihn ist sie im Gegensatz zur schnellen, bewegten, generativen Gestaltung »Slow Design«, die sein Verständnis für den negativen Raum, für Form und Maßstab fördert. »Meine optische Sensibilität verbessert sich jedes Mal, wenn ich auf die Ausdrucke eines Work-in-progress-Alphabets schaue. An jedem neuen Tag entdecke ich weitere mikrofeine Details, die ich am Vortag noch übersehen habe.«
»Meine optische Sensibilität verbessert sich jedes Mal, wenn ich auf die Ausdrucke eines Work-in-progress-Alphabets schaue. An jedem neuen Tag entdecke ich weitere mikrofeine Details, die ich am Vortag noch übersehen habe«
Mitch Paone
Diese optische Sensibilität helfe enorm bei der Komposition komplexer Designs, da man sehr intuitiv gestalten könne. »Arbeitet man mit After Effects, Cinema 4D oder Code, ist Intuition entscheidend, denn hier gibt es keine voreingestellten Hilfslinien und Grundlinienraster«, sagt Mitch. Das sei keineswegs einfach, denn auch er lernte noch, in festen Formaten und Rastern zu gestalten. »Jetzt bewegen wir uns in immersiven Räumen wie AR und VR, die fast keine Einschränkungen haben. Besonders spannend finde ich es, herauszufinden, wie sich Typografie in diesen Umgebungen verhält und funktioniert.«

Kinetic Identity auf den Lehrplan
Logisch, dass auch Mitchs Studierende sich mit den beiden großen B, Bewegung und Buchstaben, auseinandersetzen. Einige der Ergebnisse sind auf Instagram zu sehen (#headkinetic). Mit seinen Kursen hielt das Thema »Kinetic Identity« Einzug ins Curriculum. Höchste Zeit, erwartet der Designer doch, dass diese Art des Arbeitens künftig die Norm wird.
Was nach Variable Fonts die nächste Typo-Neuerung sein könnte, weiß auch er nicht, vielleicht, so überlegt er, werden wir bald nur noch in Emojis sprechen … »So wie sich die Medien ständig wandeln, verändern sich mit ihnen auch die typografischen Ausdrucksformen. Aber zumindest in meiner Lebenszeit wird nichts einen schön gestalteten und handwerklich gut gemachten Font ersetzen.«
Ihre persönliche Zukunft sehen Mitch und Meg nicht in der Schweiz, in einem, spätestens in zwei Jahren wollen sie weiterziehen. In die Vereinigten Staaten zurück aber wohl noch nicht. »Frankreich wäre cool oder vielleicht die Niederlande. Gut klingt es auch, unser Studio in einem Chalet in Chamonix einzurichten.« Wo auch immer, das Klavier wird auf jeden Fall dabei sein.
In Bewegung. Hier können Sie sich die Animationen anschauen www.page-online.de/DIA_Animationen