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Schriftwirkung: Typografie ist Storytelling

Wer Schriften richtig beurteilen will, braucht einiges an Wissen. Lesen Sie in Teil 1 unserer Serie »Schrift bringt’s«, wie man mit Fonts Geschichten erzählt.

Die New Yorker Foundry Hoefler & Co. veröffentlichte jüngst eine Sammlung von 20 Schriften, die völlig unterschiedlich sind, aber alle auf die eine oder andere Art Geschwindigkeit ausdrücken

Wenn Typedesigner die von ihnen entworfenen Schriften beschreiben, tun sie das oft mit Worten, die man auch zur Charakterisierung von Perso­nen ver­wenden würde: sach­lich, kühl, freundlich, sympa­thisch, elegant, dynamisch und so weiter. Zu Recht – denn es geht um »Typen« mit eigenem Cha­rak­ter. »Ein Font kann die Bedeu­tung eines Wortes komplett verändern und ihm Persönlichkeit geben«, sagt Sarah Hyndman.

»Schrif­ten machen aus Wörtern Geschichten – Typografie ist Storytelling.«

Auf ihrer Website Type Tasting zeigt sie, wie sich Marken und Produkte durch Typo emotional aufladen lassen. So könne man etwa Lebensmittel durch eine entsprechende Schrift auf der Verpackung gleich viel werti­ger, handgemachter und frischer positionieren.

Wirkung von Typografie

Grundsätzlich ist es so, dass wir die runden, offe­nen, handschriftlich geprägten Formen einer huma­nistischen Serifenlosen wie der Finn von Lazydogs als warm und freundlich empfinden, geschlossene, geometrische wie in Adrian Frutigers Univers eher als kühl und technisch. Breite Zeichen erwecken den Eindruck von Stabilität, schmale von Labilität. Rech­te Winkel nehmen wir als hart wahr, abgerundete als sanft. Eine große x-Höhe und damit einhergehende kurze Ober- und Unterlängen machen eine Schrift bodenständig, deutliche Ober- und Unterlängen erzeugen hingegen den Eindruck von Eleganz. Die Be­tonung der Horizontalen lässt einen Font dynamisch erscheinen, die der Vertikalen eher statisch. Dazwischen existieren zahllose Nuancen, die wahrzuneh­men und bewusst einzusetzen viel Erfahrung und ästhetisches Gespür verlangen.

Neben der Architektur einer Schrift (eckig, rund, schmal, geradlinig und so weiter), die bereits eine Grundtonalität besitzt, kann man als Schriftgestalter auch gewisse Merkmale und besondere Details einbauen, die der Betrachter lernt und dann mit der Marke verknüpft. Wie es etwa Erik Spiekermann mit den schrägen Abschlüssen bei seiner Schrift für die Deut­sche Bahn getan hat.

»Dafür braucht es allerdings Fingerspitzengefühl«, sagt der Berliner Type­de­signer Hannes von Döhren, der neben Retailfonts wie der in PAGE verwendeten FF Mark auch Custom Fonts gestaltet, beispielsweise für Lufthansa oder VW. »Diese Eigenheiten dürfen nicht erzwungen sein oder wie Fremdkörper wirken, sondern müssen sich harmonisch ins Konzept der Schrift einfügen. Auffallen, ohne zu stören – im Idealfall so, dass der Be­trach­ter eine Markenzugehörigkeit fühlt, selbst wenn er nur die Headline sieht oder in der Broschüre liest.« Bei der Deutschen Bahn ist dies aus seiner Sicht gut gelungen, bei YouTube nicht so: »Während bei der DB-Schrift die markan­ten Abschlüsse genau an den richtigen Stellen sitzen, haben die Schrägen in den Versalien des YouTube-Fonts zwar Wiedererkennbarkeit, funk­tionieren aber im Schriftbild nicht wirk­lich gut, sie wirken ziemlich unausgeglichen.«

Typografische Urteilskraft

Wie aber kann ich als Gestalter vermeiden, dass ich einen Font wähle, der etwas anderes kommuniziert, als ich beabsichtige? »Da hilft nur, sich mit dem The­ma Typografie angemessen tiefgreifend zu beschäftigen, um mündig beurteilen zu können, was Schrift­genres ausdrücken«, sagt Frank Rausch. »Schrift ist Geschmackssache, aber Geschmack hat eben auch ­et­­was mit typografischen Kenntnissen, Geschichts­­wissen und kulturellem Kontext zu tun. Wobei auch Falsch­machen Spaß machen kann – aber nur, wenn es nach Absicht aussieht.«

Geschlossene Formen wie die der Circular (links) sind vor allem in kleinen Größen schlechter lesbar als solche mit offenen wie bei der FF Clan (rechts)
Auch die Bogen beeinflussen die Schriftwahrnehmung: links identische (DTL Argo), rechts individuelle Bogen (Today). Abbildung aus Ralf und Stephanie de Jongs Buch »Schriftwechsel«

Neben Trends und Moden hat die Weise, wie man Schrift wahrnimmt, viel mit Gewohnheit zu tun. »Vor 150 Jahren wurden gebrochene Schriften in Deutschland sicher als hervorragend leserlich und relativ neutral empfunden«, sagt Rausch. »Es kann durchaus sein, dass ein ähnlicher Gewöhnungs­effekt auch auf die in den letzten Jahren überstrapazierten geometrischen Serifenlosen zutrifft.« Der Typoex­per­te ist überzeugt, dass ei­ne ganze Generation von Akademikern ­Arial in zu breit gesetztem, nicht aus­ge­gliche­nem Blocksatz für normal hält, weil Uni­versi­täten typografische Richtlinien, abgeleitet aus verschlimm­besser­ten Word-Voreinstellungen, zur Vor­schrift erklärten.

»Menschen können sich auch an schlechte Typografie gewöhnen. Aber das bedeu­tet nicht, dass wir deshalb aus fachlicher Sicht gnädi­ger darüber urteilen müssen.«

Gerade für lang­le­bi­ge Ge­stal­tungen wie Logos, aber auch für al­le an­deren Designs von Verpackungen bis hin zu Websites ist es demnach unerlässlich, sich intensiv mit der Wirkung der gewähl­ten Schrift auseinanderzusetzen.

Die Zuordnung einer Schrift zu einem Textinhalt ist für die typo­grafische Arbeit zentral. Wie Schriften auf den Betrachter wirken, zeigen Ralf und Stephanie de Jong wunderbar in ihrem Buch »Schrift­wechsel« (siehe auch hier)

Mehr zum Thema »Schrift bringt’s!«

Mehr zum Thema lesen Sie in der Titelstory in PAGE 08.2018

PDF-Download: PAGE 8.2018

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