Wer Schriften richtig beurteilen will, braucht einiges an Wissen. Lesen Sie in Teil 1 unserer Serie »Schrift bringt’s«, wie man mit Fonts Geschichten erzählt.
Wenn Typedesigner die von ihnen entworfenen Schriften beschreiben, tun sie das oft mit Worten, die man auch zur Charakterisierung von Personen verwenden würde: sachlich, kühl, freundlich, sympathisch, elegant, dynamisch und so weiter. Zu Recht – denn es geht um »Typen« mit eigenem Charakter. »Ein Font kann die Bedeutung eines Wortes komplett verändern und ihm Persönlichkeit geben«, sagt Sarah Hyndman.
»Schriften machen aus Wörtern Geschichten – Typografie ist Storytelling.«
Auf ihrer Website Type Tasting zeigt sie, wie sich Marken und Produkte durch Typo emotional aufladen lassen. So könne man etwa Lebensmittel durch eine entsprechende Schrift auf der Verpackung gleich viel wertiger, handgemachter und frischer positionieren.
Wirkung von Typografie
Grundsätzlich ist es so, dass wir die runden, offenen, handschriftlich geprägten Formen einer humanistischen Serifenlosen wie der Finn von Lazydogs als warm und freundlich empfinden, geschlossene, geometrische wie in Adrian Frutigers Univers eher als kühl und technisch. Breite Zeichen erwecken den Eindruck von Stabilität, schmale von Labilität. Rechte Winkel nehmen wir als hart wahr, abgerundete als sanft. Eine große x-Höhe und damit einhergehende kurze Ober- und Unterlängen machen eine Schrift bodenständig, deutliche Ober- und Unterlängen erzeugen hingegen den Eindruck von Eleganz. Die Betonung der Horizontalen lässt einen Font dynamisch erscheinen, die der Vertikalen eher statisch. Dazwischen existieren zahllose Nuancen, die wahrzunehmen und bewusst einzusetzen viel Erfahrung und ästhetisches Gespür verlangen.
Neben der Architektur einer Schrift (eckig, rund, schmal, geradlinig und so weiter), die bereits eine Grundtonalität besitzt, kann man als Schriftgestalter auch gewisse Merkmale und besondere Details einbauen, die der Betrachter lernt und dann mit der Marke verknüpft. Wie es etwa Erik Spiekermann mit den schrägen Abschlüssen bei seiner Schrift für die Deutsche Bahn getan hat.
»Dafür braucht es allerdings Fingerspitzengefühl«, sagt der Berliner Typedesigner Hannes von Döhren, der neben Retailfonts wie der in PAGE verwendeten FF Mark auch Custom Fonts gestaltet, beispielsweise für Lufthansa oder VW. »Diese Eigenheiten dürfen nicht erzwungen sein oder wie Fremdkörper wirken, sondern müssen sich harmonisch ins Konzept der Schrift einfügen. Auffallen, ohne zu stören – im Idealfall so, dass der Betrachter eine Markenzugehörigkeit fühlt, selbst wenn er nur die Headline sieht oder in der Broschüre liest.« Bei der Deutschen Bahn ist dies aus seiner Sicht gut gelungen, bei YouTube nicht so: »Während bei der DB-Schrift die markanten Abschlüsse genau an den richtigen Stellen sitzen, haben die Schrägen in den Versalien des YouTube-Fonts zwar Wiedererkennbarkeit, funktionieren aber im Schriftbild nicht wirklich gut, sie wirken ziemlich unausgeglichen.«
Typografische Urteilskraft
Wie aber kann ich als Gestalter vermeiden, dass ich einen Font wähle, der etwas anderes kommuniziert, als ich beabsichtige? »Da hilft nur, sich mit dem Thema Typografie angemessen tiefgreifend zu beschäftigen, um mündig beurteilen zu können, was Schriftgenres ausdrücken«, sagt Frank Rausch. »Schrift ist Geschmackssache, aber Geschmack hat eben auch etwas mit typografischen Kenntnissen, Geschichtswissen und kulturellem Kontext zu tun. Wobei auch Falschmachen Spaß machen kann – aber nur, wenn es nach Absicht aussieht.«
Neben Trends und Moden hat die Weise, wie man Schrift wahrnimmt, viel mit Gewohnheit zu tun. »Vor 150 Jahren wurden gebrochene Schriften in Deutschland sicher als hervorragend leserlich und relativ neutral empfunden«, sagt Rausch. »Es kann durchaus sein, dass ein ähnlicher Gewöhnungseffekt auch auf die in den letzten Jahren überstrapazierten geometrischen Serifenlosen zutrifft.« Der Typoexperte ist überzeugt, dass eine ganze Generation von Akademikern Arial in zu breit gesetztem, nicht ausgeglichenem Blocksatz für normal hält, weil Universitäten typografische Richtlinien, abgeleitet aus verschlimmbesserten Word-Voreinstellungen, zur Vorschrift erklärten.
»Menschen können sich auch an schlechte Typografie gewöhnen. Aber das bedeutet nicht, dass wir deshalb aus fachlicher Sicht gnädiger darüber urteilen müssen.«
Gerade für langlebige Gestaltungen wie Logos, aber auch für alle anderen Designs von Verpackungen bis hin zu Websites ist es demnach unerlässlich, sich intensiv mit der Wirkung der gewählten Schrift auseinanderzusetzen.