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Unkonventionelles Storytelling: Das ist die neue Narrative für Brands

Wie können Marken heute durch erzählerische Konzepte ihre Zielgruppe für sich gewinnen und zur Interaktion bewegen? Eine kurze Geschichte über unkonventionelles Storytelling

Collina Strada präsentiert ihre Kollektion im Videogame »Collina Land«, das Abenteuer auf fünf Leveln bietet. Die User:innen können in die Rolle der Models schlüpfen und Aufgaben rund um das Thema Ökologie erledigen

Ein echter Dauerbrenner: Marken setzen seit jeher darauf, sachliche Informationen durch Geschichten emotional aufzuladen, um ihrer Zielgrup­pe bessere Identifikationsmöglichkeiten zu bieten und sie stärker an sich zu binden. Die Bedingungen für narrative Kommunikation haben sich jedoch radikal verändert. Je mehr Brands auf Storytelling setzen, des­to schwerer wird es, sich von der Konkurrenz ab­zu­he­ben. Außerdem ist die Erwartungshaltung gestie­gen: Abgenutzte Schema-F-Geschichten haben längst aus­gedient, stattdessen sind moderne Erzäh­lungen gefragt, die für Überraschung sorgen und sich dadurch tief ins Gedächtnis der Zielgruppe einprägen.

Durch die mediale Entwicklung haben sich die Erzählmethoden zudem drastisch gewandelt: Geschichten werden nicht mehr nur innerhalb eines Kanals vorgetragen, sondern überspannen oft mehrere. Darüber hinaus haben die Konsument:innen ihre rein rezipierende Rolle aufgegeben und sind selbst zu Miterzählern avanciert, die sich an Storytelling beteiligen, etwa bei der H&M-Kampagne »Beyond the rainbow«. Hier ist der interaktive Erzählraum zum Thema Pride per App auf der visuellen Ebene mit dem Realraum verwoben (siehe unten).

Einige Marken kreieren außerdem Games, in denen die User:innen als Avatare zu Mitwirkenden wer­den. Anlässlich seines 100-jährigen Jubiläums insze­nierte das Luxuslabel Gucci seine Markengeschichte nicht nur in der multimedialen Ausstellung »Gucci Garden Archetypes« in Florenz, sondern auch in ei­nem zweiwöchigen Event auf der Spieleplattform Roblox. Die User:innen konnten die von verschiedenen Gucci-Werbekampagnen inspirierten Räu­me durchwandern, wobei sich ihre Avatare verwandelten – die Muster der Wände und des Bodens legten sich wie eine Haut über die Figuren. Der virtuelle Garten umfasste auch einen Shop, in dem man Gucci-­Artikel für seinen Avatar erwerben konnte, deren Design sich von den Exponaten in der realen Ausstellung ableitete – verwendbar auf der gesam­ten Roblox-Plattform. Das Beispiel macht deutlich: Die Linearität des Erzählens löst sich zunehmend auf.

Dass speziell die Modebranche verstärkt auf narrative Konzepte setzt, hat mehrere Gründe. Kleidung wird immer mehr online geshoppt, sodass in der realen Welt die Touchpoints schwinden, über die sich der Kontakt zur Marke emotionalisieren lässt. Darüber hinaus muss sich die Fashionindustrie intensiv mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinandersetzen. Neben sachlichen Informationen über CO₂-, Wasser- und Energieeinsparungen et cetera versuchen einige Marken, ihr ökologisches und soziales Engagement in Geschichten zu übersetzen, die, anders als reine Fakten, auf Anhieb in den Köpfen der Zielgruppe hängenbleiben.

5-Level-Storytelling

Collina Strada brachte Ende 2020 im Rahmen des digitalen Film- und Fashionfestivals GucciFest das Videogame »Collina Land« heraus. Hillary Taymour, Gründerin des New Yorker Modelabels, entwickelte hierfür zusammen mit dem Fotografen Charlie Engman und dem Multimedia Artist Freeka Tet eine interaktive Welt, die die Pre-Fall-2021-Kollektion präsentiert und gleichzeitig die ökologischen und sozialen Werte der Marke widerspiegelt. »Collina Land« umfasst fünf Level: eine Eis-, eine Farm-, eine gezeichnete sowie eine Wüsten- und eine Unterwasserwelt. Die User:innen können diese mit den Avataren der Models erkunden, die die Kleider der Kollektion tragen. Um das jeweils nächste Level zu erreichen, müssen sie Aufgaben zum Thema Ökologie erledigen, etwa Müll sammeln, Feuer löschen oder Polarbären zusammenbringen.

 

Die Idee für das Videospiel beeinflusste auch das Design dieser Collina-Strada-Kollektion (Foto: Charlie Engman)

Das beim GucciFest präsentierte Video, das auf der Website der Mar­ke als Endlosschleife läuft, zeigt die rasante Reise durch die fünf abenteuerlichen Welten. Zwischendrin werden hier die Models in Collina-Strada-Kleidern eingeblendet, die offenbar gerade selbst »Collina Land« spielen – ein irrer Mix verschiedener Wirklichkeitsebenen.

Kollektive Erzählung

Zum Pride Month Juni launchte H&M die Kampagne »Beyond the rainbow«, die dazu inspirieren soll, die Grundwerte Vielfalt, Gleichheit und Toleranz zu unterstützen. Hierfür entwickelte die Agentur B-Reel eine App, mit der sich die User:innen persönliche Geschichten einiger Stars anschauen können, die über Themen wie Liebe, Hass, Erwachsenwerden und Coming-out sprechen. Darüber hinaus können sie jedoch auch eigene Erfahrungen über die App und die sozialen Medien mit der Community teilen. Auf diese Weise entsteht ein stetig wachsender Erzählraum zum Thema LGBTQIA+, der sich durch User:innengeschichten anreichert.

Mit der App zur H&M-Kampagne »Beyond the rainbow« kann man beliebige Regenbogen in der Realwelt scannen und gelangt dann zu wahren LGBTQIA+-Geschichten

Auf die Inhalte der Kampagne kann man zugreifen, indem man ein beliebiges Regenbogenmotiv im eigenen Umfeld scannt – zum Beispiel Fahnen oder Sticker –, denn die App kann das farbige Mus­ter erkennen. Im Monat Juni platzieren viele Marken den Regenbogen auf verschiedenste Produkte – oftmals als oberflächliche, austauschbare Sympathie­be­kun­dung. In diesem Kontext ist die »Beyond the rainbow«-­App ein cleverer Schachzug: Sie ermög­licht es H&M, die Regenbogen anderer Marken für eigene Zwecke zu nutzen und dem Symbol durch das Aufladen mit wahren Geschichten mehr Relevanz zu verleihen.

Im Rahmen der Kampagne spendet die Modekette H&M 100 000 Dollar an die »UN Free & Equal«-Initiative der Vereinten Nationen, die sich für gleiche Rechte und eine faire Behandlung der weltweiten LGBTQIA+-Community einsetzt. Ein rundes Konzept also – bleibt allerdings abzuwarten, inwieweit diese Community wirklich bereit ist, solche doch sehr per­sönlichen Geschichten unter dem Dach einer Marke mit anderen zu teilen.

Spannender Stoff

Das Luxusmodelabel Chloé sorgte bei der Paris Fashion Show im März für Erstaunen. Bei der Präsen­tation der Kollektion von Chefdesignerin Gabriela Hearst trugen einige der Models Jacken mit einer besonderen Geschichte: Sie entstand in Kooperation mit der niederländischen Organisation Sheltersuit. Deren Gründer, Bas Timmer, hatte Fashion Design studiert und wollte eigentlich eine eigene Mode­linie herausbringen – doch dann starb der Vater seines besten Freundes auf der Straße an Unterkühlung, und Timmer beschloss, Schutzkleidung für Obdach­lose zu entwickeln. Zusammen mit Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben, stellt er aus aussortierten Stoffen Jacken her, an die sich per Reißverschluss Schlafsackteile andocken lassen. Die­se Sheltersuits verteilt Bas Timmer kostenlos an Bedürftige in Deutschland, den Niederlanden, Italien, Frankreich, Südafrika und den Vereinigten Staaten.

Chloé schickte Models in Sheltersuits auf den Laufsteg, deren Schnitt eigentlich für obdachlose Menschen konzipiert ist

Für die Chloé-Show wurde der Jackenschlafsack leicht variiert: Statt des wasserdichten Zeltstoffs war hier das Futter nach außen gekehrt – für diesen Zweck aus gemusterten Seidenstoffresten produziert. Die Models trugen die Sheltersuits wie einen glamourösen Mantel mit Schärpe. Sie wurden zwar nicht als Teil der Kollektion in Serie produziert, zusätzlich kreierten Bas Timmer und Gabriela Hearst jedoch 550 Rucksäcke aus ähnlichen Seidenstoffen. Für jedes verkaufte Exemplar wurden dann zwei Sheltersuits für obdachlose Menschen produziert.

Indem sich die Luxusmarke auf dem Laufsteg dem Paralleluniversum der Obdachlosigkeit öffnete, kom­munizierte sie eine klare Haltung. Sie machte für ihre Community emotional erfahrbar, dass Werte wie so­ziales Engagement und Nachhaltigkeit für die Marke eine wichtige Rolle spielen. Wer den Rucksack kaufte, konnte an dieser Geschichte und ihrer Weitererzählung sogar selbst teilhaben.

Belebtes Bilderbuch

Wie lässt sich eine Kollektion in Covid-19-Zeiten mit digitalen Mitteln wirkungsvoll in Szene setzen? H&M und die irische Modedesignerin Simone Rocha entschieden sich für ein Augmented-Reality-Pop-up-­Buch und engagierten für die Gestaltung der Seiten die britische Malerin Faye Wei Wei. Ihre Bilder dienen als Kulissen für die Figuren, die erst durch das Scannen der QR-Codes im Buch auf dem Smartphone-Bildschirm in Erscheinung treten. Diese Figuren werden von verschiedenen Schau­spie­ler:­in­nen, Tänzer:innen, Models, Musiker:innen und von Faye Wei Wei selbst verkörpert und präsentieren die Kollektion in verschiedenen Szenen.

Das Pop-up-Buch für die »Simone Rocha x H&M«-Kollektion ent-stand gemeinsam mit der Malerin Faye Wei Wei. Dank AR bewegen sich die Figuren zwischen den papiernen Kulissen

Das Pop-up-Buch eröffnet eine magische Welt, in der das Große klein und das Kleine groß ist – ähnlich wie bei »Alice in Wonderland«. Für Überraschung sorgt auch der Kontrast zwischen den handbemalten Papierkulissen, den filmisch integrierten Figuren und den geometrischen Formen der QR-Codes, die quasi als Schlüsselloch zum Wunderland dienen. Jede Seite wird zu einer kleinen Bühne, auf der sich eine traumartige Szene abspielt. Das AR-Buch inspiriert die Betrachtenden, selbst Zusammen­hänge zwischen den Szenen herzustellen und sich die ganze Geschichte auszumalen.

Simone Rocha, die 2010 ihr eigenes Label gründete, entwirft Kleider, die mit eigenwilligen Kontras­ten spielen. Sie kombiniert barocke Details – Tüll, Perlen, Spitzen – mit modernen, teils auch maskulinen Elementen. So wirken ihre Kleidungsstücke manchmal wie Kostüme für moderne Inszenierungen klassi­scher Theaterstücke. Das Pop-up-Buch, das seinerseits mit starken formalen Kontrasten spielt und Assoziationen an Theaterszenen weckt, spiegelt die Welt von Simone Rocha also auf perfekte Weise wider. Seine magische Wirkung wird im Video erfahrbar:

 

Dieser Artikel ist in PAGE 09.2021 erschienen. Die komplette Ausgabe können Sie hier runterladen.

PDF-Download: PAGE 09.2021

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