
Unkonventionelles Storytelling: Das ist die neue Narrative für Brands
Wie können Marken heute durch erzählerische Konzepte ihre Zielgruppe für sich gewinnen und zur Interaktion bewegen? Eine kurze Geschichte über unkonventionelles Storytelling

Das beim GucciFest präsentierte Video, das auf der Website der Marke als Endlosschleife läuft, zeigt die rasante Reise durch die fünf abenteuerlichen Welten. Zwischendrin werden hier die Models in Collina-Strada-Kleidern eingeblendet, die offenbar gerade selbst »Collina Land« spielen – ein irrer Mix verschiedener Wirklichkeitsebenen.
Kollektive Erzählung
Zum Pride Month Juni launchte H&M die Kampagne »Beyond the rainbow«, die dazu inspirieren soll, die Grundwerte Vielfalt, Gleichheit und Toleranz zu unterstützen. Hierfür entwickelte die Agentur B-Reel eine App, mit der sich die User:innen persönliche Geschichten einiger Stars anschauen können, die über Themen wie Liebe, Hass, Erwachsenwerden und Coming-out sprechen. Darüber hinaus können sie jedoch auch eigene Erfahrungen über die App und die sozialen Medien mit der Community teilen. Auf diese Weise entsteht ein stetig wachsender Erzählraum zum Thema LGBTQIA+, der sich durch User:innengeschichten anreichert.

Auf die Inhalte der Kampagne kann man zugreifen, indem man ein beliebiges Regenbogenmotiv im eigenen Umfeld scannt – zum Beispiel Fahnen oder Sticker –, denn die App kann das farbige Muster erkennen. Im Monat Juni platzieren viele Marken den Regenbogen auf verschiedenste Produkte – oftmals als oberflächliche, austauschbare Sympathiebekundung. In diesem Kontext ist die »Beyond the rainbow«-App ein cleverer Schachzug: Sie ermöglicht es H&M, die Regenbogen anderer Marken für eigene Zwecke zu nutzen und dem Symbol durch das Aufladen mit wahren Geschichten mehr Relevanz zu verleihen.
Im Rahmen der Kampagne spendet die Modekette H&M 100 000 Dollar an die »UN Free & Equal«-Initiative der Vereinten Nationen, die sich für gleiche Rechte und eine faire Behandlung der weltweiten LGBTQIA+-Community einsetzt. Ein rundes Konzept also – bleibt allerdings abzuwarten, inwieweit diese Community wirklich bereit ist, solche doch sehr persönlichen Geschichten unter dem Dach einer Marke mit anderen zu teilen.
Spannender Stoff
Das Luxusmodelabel Chloé sorgte bei der Paris Fashion Show im März für Erstaunen. Bei der Präsentation der Kollektion von Chefdesignerin Gabriela Hearst trugen einige der Models Jacken mit einer besonderen Geschichte: Sie entstand in Kooperation mit der niederländischen Organisation Sheltersuit. Deren Gründer, Bas Timmer, hatte Fashion Design studiert und wollte eigentlich eine eigene Modelinie herausbringen – doch dann starb der Vater seines besten Freundes auf der Straße an Unterkühlung, und Timmer beschloss, Schutzkleidung für Obdachlose zu entwickeln. Zusammen mit Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben, stellt er aus aussortierten Stoffen Jacken her, an die sich per Reißverschluss Schlafsackteile andocken lassen. Diese Sheltersuits verteilt Bas Timmer kostenlos an Bedürftige in Deutschland, den Niederlanden, Italien, Frankreich, Südafrika und den Vereinigten Staaten.

Für die Chloé-Show wurde der Jackenschlafsack leicht variiert: Statt des wasserdichten Zeltstoffs war hier das Futter nach außen gekehrt – für diesen Zweck aus gemusterten Seidenstoffresten produziert. Die Models trugen die Sheltersuits wie einen glamourösen Mantel mit Schärpe. Sie wurden zwar nicht als Teil der Kollektion in Serie produziert, zusätzlich kreierten Bas Timmer und Gabriela Hearst jedoch 550 Rucksäcke aus ähnlichen Seidenstoffen. Für jedes verkaufte Exemplar wurden dann zwei Sheltersuits für obdachlose Menschen produziert.
Indem sich die Luxusmarke auf dem Laufsteg dem Paralleluniversum der Obdachlosigkeit öffnete, kommunizierte sie eine klare Haltung. Sie machte für ihre Community emotional erfahrbar, dass Werte wie soziales Engagement und Nachhaltigkeit für die Marke eine wichtige Rolle spielen. Wer den Rucksack kaufte, konnte an dieser Geschichte und ihrer Weitererzählung sogar selbst teilhaben.
Belebtes Bilderbuch
Wie lässt sich eine Kollektion in Covid-19-Zeiten mit digitalen Mitteln wirkungsvoll in Szene setzen? H&M und die irische Modedesignerin Simone Rocha entschieden sich für ein Augmented-Reality-Pop-up-Buch und engagierten für die Gestaltung der Seiten die britische Malerin Faye Wei Wei. Ihre Bilder dienen als Kulissen für die Figuren, die erst durch das Scannen der QR-Codes im Buch auf dem Smartphone-Bildschirm in Erscheinung treten. Diese Figuren werden von verschiedenen Schauspieler:innen, Tänzer:innen, Models, Musiker:innen und von Faye Wei Wei selbst verkörpert und präsentieren die Kollektion in verschiedenen Szenen.

Das Pop-up-Buch eröffnet eine magische Welt, in der das Große klein und das Kleine groß ist – ähnlich wie bei »Alice in Wonderland«. Für Überraschung sorgt auch der Kontrast zwischen den handbemalten Papierkulissen, den filmisch integrierten Figuren und den geometrischen Formen der QR-Codes, die quasi als Schlüsselloch zum Wunderland dienen. Jede Seite wird zu einer kleinen Bühne, auf der sich eine traumartige Szene abspielt. Das AR-Buch inspiriert die Betrachtenden, selbst Zusammenhänge zwischen den Szenen herzustellen und sich die ganze Geschichte auszumalen.
Simone Rocha, die 2010 ihr eigenes Label gründete, entwirft Kleider, die mit eigenwilligen Kontrasten spielen. Sie kombiniert barocke Details – Tüll, Perlen, Spitzen – mit modernen, teils auch maskulinen Elementen. So wirken ihre Kleidungsstücke manchmal wie Kostüme für moderne Inszenierungen klassischer Theaterstücke. Das Pop-up-Buch, das seinerseits mit starken formalen Kontrasten spielt und Assoziationen an Theaterszenen weckt, spiegelt die Welt von Simone Rocha also auf perfekte Weise wider. Seine magische Wirkung wird im Video erfahrbar:
Dieser Artikel ist in PAGE 09.2021 erschienen. Die komplette Ausgabe können Sie hier runterladen.